„Auf jeden Fall hat Christian Lindner aus den Ergebnissen von 2017 gelernt.“ Der Trierer Politologe Uwe Jun im Gespräch über die Bundestagswahl (Teil 2)

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Dr Politikwissenschaftler Prof. Dr. Uwe Jun von der Universität Trier. Foto: Birgit Reichert/dpa

Im zweiten Teil unseres Interviews mit Prof. Dr. Uwe Jun von der Universität Trier zum Bundestagswahlkampf spricht der Parteienforscher u.a. über Lindners Lernfähigkeit, die Unfähigkeit der AfD, neue Themen zu besetzen, und über mögliche Koalitionsoptionen.

Lokalo: FDP-Chef Christian Lindner hat am Wochenende seinen Anspruch bekräftigt, Finanzminister in der nächsten Bundesregierung zu werden. Obwohl der FDP lange der Ausstieg aus den Jamaika-Verhandlungen 2017 negativ angekreidet wurde, steht die Partei gut da. Ihr könnte aufgrund der relativ schwachen Werte von Union, Grünen und SPD sogar eine Schlüsselrolle bei der nächsten Regierungsbildung zufallen, wie Sie bereits angedeutet haben. Ist die FDP jetzt wieder der Königsmacher, der sie in der alten Bonner Republik so oft war?
 
Jun: Sie könnte wieder in diese Rolle des liberalen Korrektivs hineinwachsen, in der Tat. Das betonen die Liberalen ja auch immer wieder, z.B. in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Mit wirtschafts- und finanzpolitischer Vernunft will die FDP agieren. Sie sieht sich da wieder als wirtschaftsliberales Korrektiv. Es wäre denkbar, dass eine Regierungsbildung ohne die FDP nur schwer möglich ist und dass ihr dann eben die Rolle zukommt zu entscheiden, ob sie eine Jamaika- oder eine Ampelkoalition bevorzugt. Das wäre durchaus nicht unmöglich.
 
Auf jeden Fall hat Christian Lindner aus den Ergebnissen von 2017, den gescheiterten Sondierungsgesprächen mit Union und Grünen, gelernt. Er versucht jetzt mehr das Image einer seriösen potenziellen Regierungspartei deutlich werden zu lassen und hier eindeutig die Bereitschaft zu zeigen, diesmal Sondierungs- oder Koalitionsgespräche nicht an der FDP scheitern zu lassen. Ich gehe auch fest davon aus, dass sie nicht an der FDP scheitern werden, denn Christian Lindner weiß, ein zweites Man kann er, kann die FDP sich ein solches Verhalten nicht leisten. Wenn es also für die Partei sehr günstig läuft, hat sie eine Schlüsselrolle. Das hängt auch ein bisschen von der Union ab, d.h. die FDP rekrutiert im Moment sehr viele Wähler, die mit der Union nicht zufrieden sind, weder mit der inhaltlichen Aufstellung noch mit dem Kanzlerkandidaten der Unionsparteien. Wenn dies in der Wählerschaft anhalten sollte, profitiert die FDP und könnte in eine strategisch günstige Ausgangsposition für die Bundestagswahl kommen.
 
Es gilt hier das Diktum von Christian Lindner, eine Regierungsbildung ohne die FDP unmöglich zu machen. Und das wäre aus meiner Sicht nur eine, nämlich die schwarz-grüne, die aber einen nicht geringen Wahrscheinlichkeitsgrad hat.
 
 
Lokalo: Höhere Renten, höherer Mindestlohn, Einführung einer Vermögensabgabe. Die Linkspartei präsentiert sich wie gehabt als Anwalt der sozial Schwachen. Ihre Landtagswahlergebnisse – jüngst wieder in Sachsen-Anhalt – sind aber seit längerem schwach, im Bund muss sie um den Wiedereinzug in den Bundestag bangen. Ziehen die sozialpolitischen Themen nicht mehr?
 
Jun: Die Linken haben Schwierigkeiten in vielerlei Hinsicht. Zum einen propagieren sie seit Jahrzehnten den Aspekt der sozialen Gleichheit. Sie wollen den sozial Geringstprivilegierten mehr soziale Räume geben, mehr soziale Teilhabe ermöglichen. Aber diese Form der sozialen Gleichheit beschäftigt derzeit außerhalb der unmittelbar Betroffenen nur relativ wenige. Das heißt, die Linkspartei kann ihr Wählerpotenzial derzeit nicht abrufen, zumal die sozioökonomischen Fragen im Moment hinter soziokulturellen zurückstehen.
 
Ich versuche, das zu übersetzten: Bestimmte Wertefragen beschäftigen die Wähler spürbar mehr als sozioökonomische Verteilungsfragen. Grüne und AfD sind erfolgreicher darin, diese Wertefragen zu thematisieren und als Antipoden diese zu besetzen. Die Linke hat zudem ihr Image, Vertreterin ostdeutscher Interessen zu sein, weitgehend eingebüßt. Hinzu kommt, dass sie auch nicht mehr diejenigen abholen können, die ich die „DDR-Nostalgiker“ oder „Ostalgiker“ nenne, weil die zu weiten Teilen mittlerweile verstorben sind. Innerparteiliche Zwistigkeiten, deren Kristallisationspunkt Sarah Wagenknecht ist, sind des Weiteren für Wahlerfolge nicht förderlich.
 
Die Linken schaffen es auch nicht, das Thema soziale Gleichheit konkreter auszugestalten, zu sagen was das für den Einzelnen konkret an Vorteilen mit sich bringen könnte. Sie hebt sich zudem auch nicht so sehr von SPD und Grünen ab. Sie hat wahrgenommen, dass die SPD sich sozioökonomisch nach links verschoben hat, aber sie hat außer der Wahrnehmung dem wenig entgegenzusetzen. Selbst wenn Sie sich das Wahlprogramm der Grünen im Vergleich anschauen, sind die Differenzen zu den Linken in sozialpolitischer Hinsicht thematisch an vielen Stellen nur graduell. Die Linken sind zwar seit jeher radikaler in ihren Umverteilungsvorstellungen. Aber diese Radikalität zieht bei vielen Wählern nicht.
 
Zudem sind ihre Kandidaten wenig wählerwirksam. Sie hatten mit Gregor Gysi früher einen wählerwirksamen Spitzenkandidaten. Das fällt jetzt weg. Die beiden jetzigen Spitzenkandidaten sind einer größeren politischen Öffentlichkeit nahezu unbekannt. Und sie haben es nicht geschafft, sich soziokulturell eine eigene Vision aufzubauen. Ihre soziokulturellen Vorstellungen entsprechen denen der Grünen bzw. unterscheiden sich von den Grünen nur unwesentlich. Das ist insgesamt zu wenig, um in breiten Schichten der Bevölkerung Akzeptanz zu finden.
 
 
Lokalo: Sie haben es bereits angesprochen: Die AfD ist bei der letzten Bundestagswahl, noch unter dem Eindruck der Nachwirkungen der Flüchtlingskrise, mit satten 12,6% drittstärkste Kraft geworden. In den letzten beiden Jahren hat sie versucht, sich mit scharfer Kritik an der Corona-Politik der Bundesregierung zu profilieren. Das scheint aber nicht in dem Maße zu funktionieren. Ist die AfD eine Ein-Themen-Partei, die nur mit Anti-Zuwanderer-Politik punkten kann?
 
Jun: Der Noch-Franktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Alexander Gauland, hat ja Recht gehabt, indem er es als Glücksfall für seine Partei bezeichnet hat, dass die Migration in den Jahren 2015/16 deutlich angestiegen ist, weil die AfD davon in erheblicher Weise profitieren konnte. Denn ein erheblicher Teil der Bevölkerung stand und steht skeptisch den recht hohen Zuwandererzahlen gegenüber. Bei AfD-Wählern spielt das Thema noch immer eine zentrale Rolle. Aber die Partei hat es in der Tat nicht mehr geschafft, ein weiteres Thema für sich genauso erfolgreich zu besetzen.
 
Sie hat aber mittlerweile eine erhebliche Stammwählerschaft entwickelt, deswegen liegt sie immer noch bei etwa 10% in den meisten Umfragen. Das sind oftmals diejenigen, die subjektiv unzufrieden sind mit der Politik in Deutschland, mit dem politischen System, mit der Migrationspolitik, viele auch mit dem Corona-Krisenmanagement der Bundesregierung. Daher wird es der AfD wohl erneut gelingen, wieder in den Deutschen Bundestag einzuziehen.
 
Warum gelingt es ihr zur Zeit nicht, mehr Schlagkraft zu entwickeln? Zum einen ist das Thema Migration nicht mehr so präsent wie 2017. Zum anderen ist aber ersichtlich, dass die Partei im Moment recht stark mit sich selbst beschäftigt ist. Viele innerparteiliche Kontroversen prägen das Außenbild der Partei, aber nicht nur das Außenbild, sondern auch der innere Zustand der Partei wird zu nicht unerheblichen Teilen davon beeinflusst. Insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Herrn Meuthen und Herrn Chrupalla, die ja beide als Vorsitzende agieren, wird medial transportiert und sichtbar. Wenn eine Partei sehr viel mit sich selbst beschäftigt ist, dann schafft sie es in der Regel nicht, noch die Ressourcen zu bündeln, die notwendig wären, um stärker nach außen zu wirken und die Außenwirkung erfolgreich transportieren zu können.
 
Summa summarum sieht es so aus, als sei die AfD zumindest temporär-situativ an eine gewisse Grenze gestoßen und als könne sie die Wahlerfolge der Vergangenheit, insbesondere von 2017, nicht vollends wiederholen.
 
 
Lokalo: Die Freien Wähler sind bei der Landtagswahl im März hier in Rheinland-Pfalz in den dritten Landtag eingezogen. Sie ziehen jetzt mit dem bayerischen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger als Spitzenkandidaten in die Bundestagswahl. Aiwanger ist auch deutschlandweit bekannt, zumindest hat er einen gewissen Bekanntheitsgrad. Hat die Partei aus Ihrer Sicht eine realistische Chance, in den Bundestag einzuziehen?
 
Jun: Es ist schwer für sie, die Fünf-Prozent-Hürde zu meistern. Auch drei Direktmandate zu gewinnen, sehe ich kaum als Chance an. Also werden die Möglichkeiten für die Freien Wähler gering sein.
 
Es ist auch ein weiter Schritt von der kommunalen Ebene, von der sie ja eigentlich kommen, bis zur Bundesebene. Auf Landesebene kann das funktionieren, gerade dann, wenn einzelne Kommunalpolitiker, wie etwa Herr Aiwanger in Niederbayern oder Herr Streit bei uns in der Eifel, über ihre kommunalpolitische Verankerung räumlich etwas hinausweisen können. Man sah ja auch in Rheinland-Pfalz, dass die Freien Wähler eher in ländlichen Räumen, insbesondere dort, wo Joachim Streit gewirkt hat, erfolgreich waren. Aber bis zur Bundespolitik ist es dann doch ein großer Schritt.
 
Die Partei hat deutlich weniger Anziehungskraft in den großen Städten. Sie scheinen zudem kein ganz klares Bild davon zu haben, was die Partei nach außen erfolgreich wirken lassen könnte. Weder ist Herr Aiwanger außerhalb Bayerns ein großes Zugpferd, noch gelingt es der Partei, sich auf Bundesebene klar von den Unionsparteien oder der FDP so weit abzugrenzen, dass sie ein eigenständiges Profil hätte, das nun deutlich von diesen beiden unterscheidbar ist. Schließlich noch wichtiger ist, dass sie sich immer klar von der AfD abgrenzen muss.
 
Insofern wird es für die Freien Wähler schwer und unwahrscheinlich, in den Bundestag einzuziehen.
 
 
Lokalo: Dann möchte ich sie zum Abschluss um ihre Prognose bitten: Wer regiert uns ab September?
 
Jun: Bis September ist es noch recht lange hin. Prognosen mit Blick auf Resultate in acht Wochen sind schwieriger geworden, weil kurzfristige Faktoren an Relevanz dazu gewonnen haben. Die Wähler agieren emotionaler, treffen ihre Wahlentscheidung später und machen diese mehr von situativen Faktoren abhängig als in der Vergangenheit. Die Parteibindungen sind deutlich zurückgegangen. All dies erschwert das Treffen von Prognosen deutlich.
Ganz große Überraschungen erwarte ich zwar intern im Parteienwettbewerb nicht mehr. Aber ein externes Ereignis könnte alles durcheinanderwirbeln. Dies haben wir in der Vergangenheit immer mal wieder kurz vor der Wahl gesehen. 2002 beispielsweise gab es die katastrophale Hochwasser-Situation, die seinerzeit kurzfristig erheblich mit dazu beitrug, dass Gerhard Schröder und seine SPD noch an der CDU vorbeiziehen konnten.

Unter der Voraussetzung, dass kein gravierender externer Schock mehr eintritt, sind aus meiner Sicht vier realistische Szenarien zu betrachten.
Erstens eine Koalition von CDU und Grünen, wobei eine solche Regierung dann unter Führung der CDU die wahrscheinlichere Konstellation ist.
Die nächste mögliche Koalition ist, wenn die Grünen oder die CDU noch in ein größeres Tief geraten, dass die FDP als Koalitionspartner notwendig wird und Jamaika entsteht. Sollte nur die CDU noch spürbar schwächeln, dann wäre auch die grüne Ampel eine Option. Nicht ganz ausgeschlossen werden kann der Fall, dass die SPD noch vor den Grünen landet und die rote Ampel versucht zu bilden. Aber über die nicht allzu hohe Wahrscheinlichkeit der Realisierung dieser Konstellation sprachen wir ja bereits.
Alle anderen Konstellationen sind rechnerisch oder politisch derzeit unwahrscheinlich.
 
Um die Reihenfolge nochmal zu präzisieren: Eine Koalition von CDU und Grünen ist die wahrscheinlichste, Jamaika, die grüne Ampel und die rote Ampel folgen dahinter als durchaus realistisch mögliche Koalitionsformate.
 

 
Lokalo: Herr Professor Jun, ich bedanke mich sehr für das Gespräch.

Die Fragen stellte Alexander Scheidweiler.

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2 Kommentare

  1. Ich kann die Wertung des Professors zur Bundestagswahl überhaupt nicht nachvollziehen….
    Es könnte durchaus eine Ampel aus CDU/CSU, SPD und FDP geben – es gibt kaum Wähler, welche eine Koalition aus Schwarz/Grün als Wahlergebnis möchten, dafür liegen die Themen/Inhalte beider Parteien viel, viel zu weit auseinander!
    Die Grünen sollen lieber für sich bleiben und vor sich hin dümpeln, bestenfalls mit den Eskapaden ihres Führungs-Duos noch ein paar Wähler:innen vergraulen…..

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