TRIER. Lars Ludes hat seine Corona-Erlebnisse in einem Tagebuch-Roman verarbeitet. Er verleiht damit einer ganzen Generation eine literarische Stimme. Eine Begegnung.
Von Alexander Scheidweiler
Lars Ludes sitzt auf der Terrasse im sonnendurchfluteten Garten seines Elternhauses in Ehrang. Die letzten Abiturprüfungen sind nächste Woche. Sozialkunde, Physik und Mathe sind seine Leistungsfächer. Bisher sei es ganz gut gelaufen, meint er. Nach dem Abitur würde er gerne Architektur studieren: „Lebensräume gestalten. Das Leben in den Wohnräumen erträglicher machen. Wenn man sich da die Lage ankuckt, ist das oft nicht so schön, besonders für Geringverdiener.“
Auf das Abitur fühle er sich gut vorbereitet. An seiner Schule, dem Trierer Friedrich-Spee-Gymnasium, habe der Online-Unterricht im Ganzen gut funktioniert, besser als an vielen anderen Schulen: „Die Lehrer haben regulären Unterricht im Netz gemacht, und das hat super funktioniert.“ Allein mit der Lernplattform Moodle habe es immer wieder Schwierigkeiten gegeben, das sei aber nicht die Verantwortung der Schule gewesen, sondern des Landes, das sich nicht ausreichend darum gekümmert habe. Auch nach der zweiten Welle war der Server nicht stabil: „Es blieb immer bei den gleichen Fehlern.“ Phasenweise gab es ein einziges Hin und Her zwischen Rechner und Schule: „Man hat sich einmal dran gewöhnt, an den Online-Unterricht, und dann ging es wieder zurück in den Präsenzunterricht. Und dann wieder online. Und dann wieder Präsenz. Das hat einen immer aus der Kontinuität rausgeworfen.“
Wenn man mit ihm spricht, merkt man Lars Ludes ein sensibles und differenziertes Problembewusstsein an, weit über das Maß hinaus, das man bei einem 18-jährigen erwarten würde. Dementsprechend ist es nur natürlich, dass er die Disruption, die die Pandemie mit sich gebracht hat, intensiv und schmerzlich wahrgenommen hat: „Von einem Tag auf den anderen hat sich alles geändert. Es gab einen Wandel.“ Und zwar buchstäblich von einem Tag auf den anderen. Es war an einem Donnerstag im Frühjahr letzten Jahres, erzählt Ludes, da wurde ihm und seinen Mitschülern noch gesagt, dass der Sportunterricht am darauffolgenden Freitag ganz regulär stattfinden könne: „Wird schon nichts passieren“, habe es geheißen. Und dann am Freitag: „Ihr müsst jetzt alle zu Hause Online-Unterricht machen. Von einem Tag auf den anderen. Komplette 180-Grad-Wende.“
Und dann kamen die langen Lockdowns. Der Verlust von sozialen Kontakten. Die Einsamkeit. Viele Jugendliche mussten sie erleben und erleiden, in einer Lebensphase, in der der Kontakt zu Freunden, der Wunsch, neue Erfahrungen zu machen, besonders ausgeprägt ist. Aber Lars Ludes hat die Vereinsamung nicht nur erlebt und erlitten, er hat die Erlebnisse auch literarisch verarbeitet in seinem neuen Tagebuch-Roman „Verdürrt. Tagebuch eines Jugendlichen 2020“. Angeregt wurde er dazu durch eine Deutsch-Hausaufgabe zu Goethes „Werther“. Der Briefroman aus dem Sturm-und-Drang inspirierte ihn, seine Erfahrungen in Form eines fiktionalisierten Tagebuches festzuhalten.
„Verdürrt“ – das Wort ist eine starkes Bild für die emotionale Austrocknung in der Isoliertheit und eine sprachliche Neuschöpfung zugleich. Der Gedanke sei ihm ganz spontan gekommen: „Mir kam der Gedankenblitz: Eigentlich ist das Ganze ja schon verdürrt. Und da ist mir aufgefallen: Heißt es nicht anders?“ Jedoch der Neologismus „verdürrt“ brachte die Aussageabsicht besser zum Ausdruck, findet Ludes: „Einerseits ‚verdürrt‘, weil eben dieses Lebenselixier entzogen ist. Wie ein Baum, der zu lange in der Sonne austrocknet – der nicht mehr wirklich leben kann.“ Der Titel passe aber auch in einer anderen Hinsicht sehr gut: „In dem Sinne, dass manche Fehler da waren, man sie aber nicht wirklich sieht. Und irgendwann ist etwas Falsches normal.“ Die Einsamkeit war „ein Katalysator für psychische Probleme“. Die Möglichkeit „Lebenserfahrungen zu machen“ und sich dadurch weiterzuentwickeln, sei den Jugendlichen genommen worden. „Und das kann man auch nicht wirklich nachholen. Z.B. eine Abiturfeier – wann will man das nachholen?“, fragt Lars Ludes.
Auch die Angst, unwillentlich zum „Todesboten“ zu werden, das Virus beispielsweise an die Großeltern weiterzugeben, ist in das Buch eingegangen.
„Verdürrt“ soll die Probleme der Jugendlichen darstellen und „gleichzeitig eine Mahnung an alle gesellschaftlich und politisch einflussreichen Personen“ sein, „die Belange der Jugendlichen zukünftig verantwortungsvoller zu berücksichtigen“, wie es im Vorwort heißt. Mehr Transparenz und Mitsprache bei den Entscheidungen für die Jugendlichen hätte er sich gewünscht, so Lars Ludes. Das Buch soll aber keine Anklage sein. Deshalb war er auch enttäuscht über einige Nutzerkommentare, die es im Internet bei der bisherigen Berichterstattung über sein Buch gab: „Vor zwei Generationen im Krieg ging’s uns auch schlecht“, habe es da von oben herab geheißen. Oder: „Heult nicht rum!“ So sei der Tenor oft gewesen. Dieses mangelnde Verständnis für die Lage der heutigen Jugendlichen habe ihn traurig gemacht: „Ich habe niemandem Vorwürfe gemacht, dass sie es irgendwie leichter gehabt hätten als wir. Das habe ich nie gesagt.“
Lars Ludes legt Wert auf den Romancharakter seines Tagebuches. Natürlich basiere es auf seinen Erfahrungen, aber der Protagonist ist nicht identisch mit seiner Person: „Damit habe ich mehr künstlerische Freiheit gehabt. Hätte ich mich autobiographisch behandelt, dann hätte ich die Jugendthemen, die typisch für alle Jugendlichen sind, nicht so präsentieren können, z.B. die erste Liebe.“ Ein breites Spektrum an Themen habe er in sein Buch hineingepackt, die Jugendliche beschäftigen: Religion, Politik von Trump bis „Black Lives Matter“, Umweltschutz und Nachhaltigkeit – deshalb musste die Hauptfigur eine „Indentifikationsperson“ für möglichst viele sein.
Dennoch, vieles von ihm selbst ist eingeflossen: Die Liebe zur Malerei, das Klavierspiel. Gewissermaßen wie im „Werther“, dessen Protagonist nicht mit dem Autor identisch ist, und dennoch einige Ähnlichkeiten aufweist. Zu der literaturgeschichtlichen Anregung sagt er: „Der Werther hat seinen Briefen etwas komplett anvertrauen können. Das habe ich mit dem Tagebuch auch gemacht.“ Er rede zwar nicht direkt über seine eigenen Probleme, aber: „Mir hat das Buch geholfen, mich emotional ein bisschen anzuvertrauen.“ Und zum Abschluss: „Man kann ja mit niemandem wirklich darüber reden.“
Lars Ludes Tagebuch-Roman „Verdürrt“ ist im Verlag Tredition erschienen, hat 140 Seiten und kostet €9,90.