
BITBURG. Der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen stellte am gestrigen Abend im Haus Beda in Bitburg seinen aktuellen Spiegel-Bestseller „Nie wieder hilflos. Ein Manifest in Zeiten des Krieges“ vor. Das interessierte Publikum erlebte einen lehrreichen geopolitischen Rundumschlag auf Basis eines streitbaren Manifests. Im Rahmen der Podiumsgespräche mit dem Bitburger Bundestagsabgeordneten Patrick Schnieder sowie bei der Beantwortung der Publikumsfragen wurde insbesondere das gegenwärtig hochaktuelle Thema der deutschen Energieabhägigkeit von Russland kritisch beleuchtet.
Von Alexander Scheidweiler
Wie es nur sein könne, dass Deutschland nicht den Mut habe, in der Frage der Energieabhängigkeit von Russland endlich einen harten Schnitt zu machen und dem russischen Präsidenten Putin einfach zu sagen: „Dann behalte doch dein Gas“, wollte ein Mann aus dem Publikum gegen Ende der Veranstaltung wissen. Wenn einem ein Zahn weh tue, gehe man ja auch zum Zahnarzt und lasse ihn ziehen, anstatt die Sache vor sich her zu schieben. Die Frage sei berechtigt, aber die Metapher vielleicht nicht ganz passend, erwiderte der Mann, an den die Frage im Bitburger Haus Beda am gestrigen Abend gerichtet war.
Norbert Röttgen, ehemaliger Bundesumweltminister, langjähriger Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages und in den Jahren der Merkel-Regierung innerparteilicher Kritiker des Baus der umstrittenen Nord Stream 2-Pipeline saß mit seinem Parteifreund, dem Bitburger Bundestagsabgeordneten Patrick Schnieder, auf dem Podium und beantwortete die Zuschauerfragen, die sich aus der Präsentation seines aktuellen Spiegel-Bestsellers „Nie wieder hilflos! Ein Manifest in Zeiten des Krieges“ ergaben. Im Rahmen der Veranstaltung der Kulturgemeinschaft Bitburg hatte Röttgen im Laufe des Abends drei Kapitel aus dem Buch vorgetragen, das eine schonungslose Analyse der Schwächen deutscher Außenpolitik vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges entwickelt und Perspektiven entfaltet, wie die allfällige Hilflosigkeit im Angesicht der geopolitischen Herausforderungen der Gegenwart – Röttgen behandelt in seinem Buch Russland, die USA, China, die Pandemie, den Klimawandel und die Migration – aussehen könnten.

An jede Passage schlossen sich ein Dialog mit Schnieder sowie Zuschauerfragen an. Und wie gesagt: Ganz am Ende des Abends, in der letzten Fragerunde, kam also die Frage, warum Deutschland sich den russischen Gas-Zahn nicht einfach ziehen lasse und Putin die kalte Schulter zeige. Die Frage also sei berechtigt, so der Außenpolitiker bedächtig, das Bild jedoch „gewagt“. Mit Deutschland und dem russischen Gas verhalte es sich eher wie mit jemandem, „der sich an eine Droge gewöhnt hat.“ Davon komme man nicht so ohne weiteres weg, während die Zahnschmerzen einen von alleine drängten, Abhilfe zu schaffen. Im Gegensatz dazu gilt: „Wer abhängig wird, weiß, dass er ein Problem hat – aber solange er die Droge bekommt, fühlt er sich ja gut“, erklärte Röttgen. Auf Entzug zu gehen, sei nun einmal noch viel härter als zum Zahnarzt zu gehen.
Röttgen, der noch im letzten Dezember dem Wunschkandidaten des Wirtschaftsflügels, Friedrich Merz, in der Mitgliederbefragung um den CDU-Parteivorsitz für die Nachfolge des glücklosen Kanzlerkandidaten Armin Laschet unterlegen war, kritisierte in diesem Zusammenhang das Verhalten der deutschen Wirtschaft: Diese habe, um im Bild zu bleiben, nie die Bereitschaft gezeigt, auf Entzug zu gehen, sondern nach immer mehr von der Droge des billigen Erdgases gerufen. In der aktuellen Situation, so Röttgen, müsse jetzt der Westen aktiv werden, anstatt passiv darauf zu schauen, ob Putin den gegenwärtig unterbrochenen Zustrom von Erdgas durch die Pipeline Nord Stream 1 wieder in Gang setze. Einen guten Vorschlag habe schon vor längerer Zeit der italienische Ministerpräsident Mario Draghi gemacht, der die Idee ins Spiel gebracht habe, die Nachfragemacht der Europäer bezogen auf russisches Öl und Gas zu nutzen, indem Europa einfach unilateral den Preis festsetzt, zu dem die Rohstoffe abgenommen werden, da Putin sie nur bedingt an andere Kunden verkaufen könne. Auch für einen vollständigen Verkauf bzw. Transport russischen Öls per Schiff stünden nicht genug Tanker zur Verfügung, meinte Röttgen, so dass Putin auf die Europäer angewiesen bleibe.
Die Bundesregierung hingegen betreibe eine „reine Angstpolitik“, in der Hoffnung, in demjenigen Falle, dass etwas schiefgehe, sagen zu können, man sei nicht Schuld, da man ja gar nichts gemacht habe. Dies sei aber eine geopolitische Fehlkalkulation, betonte Röttgen, denn auch Unterlassen und Nichthandeln begründe Verantwortung und habe Folgen. Diese Angstpolitik, dieses Nichthandeln habe bewirkt, dass Deutschland Putin monatelang die Kassen gefüllt habe, so dass dieser jetzt das Heft des Handelns in der Hand habe und Deutschland mit vermeintlichen technischen Lieferschwierigkeiten erpressen könne: „Wir diskutieren nur noch darüber: Dreht er uns den Hahn zu oder nicht?“

Bereits in der zweiten Dialogrunde hatte Schnieder darauf hingewiesen, dass durch den russischen Angriff auf Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014 sowie den Essay vom letzten Sommer, in dem Putin seine imperialen Ambitionen dargelegt hatte, im Grunde absehbar war, dass weitere außenpolitische Aggressionen zu erwarten waren. Als die Entscheidung zum Bau von Nord Stream 2 im Jahre 2015 getroffen wurde, sei die Bundesregierung dafür gewesen, während die Meinung in der Unionsfraktion geteilt gewesen sei, wobei Röttgen von Anfang an zu den Kritikern gehört habe, fügte der Bitburger Bundestagsabgeordnete hinzu. Er könne sich heute die Frage selbst nicht beantworten, warum so kurz nach der Krim-Annexion nicht anders regiert wurde. „War es die reine Bequemlichkeit? War es die Gier nach billiger Energie?“, fragte Schnieder daher Röttgen.
Der griff die beiden harten Vokabeln Schnieders ausdrücklich auf. Zwar habe er sein Buch in einem analytischen Ton geschrieben, und nicht im Ton desjenigen, der selbstgefällig hervorkehre, es schon immer besser gewusst zu haben, doch die passive Haltung Deutschlands noch nach der Annexion der Krim und der russischen Bombardierung Aleppos im syrischen Bürgerkrieg sei nur mit Bequemlichkeit zu erklären, kritisierte der CDU-Außenexperte. Man hätte ganz andere Konsequenzen ziehen müssen, was aber sehr anstrengend geworden wäre. Diese innenpolitische Bequemlichkeit sei durch das massive Drängen der Industrie nach billiger Energie noch verstärkt worden. Röttgen erinnerte in diesem Kontext daran, dass 2015, also nach der Krim-Annexion, nicht nur die Entscheidung für Nord Stream 2 getroffen, sondern auch der größte deutsche Gasspeicher im niedersächsischen Rheden an an den russischen Staatskonzern Gazprom verkauft wurde.
Doch nicht nur um Russland und die gegenwärtig hochaktuelle Frage der Verfügbarkeit russischen Erdgases ging es am gestrigen Abend im Haus Beda. Eröffnet hatte Röttgen den Abend mit seinem Kapitel „Ringen um die neue Weltordnung“, in dem er einen „ganz neuen geopolitischen Systemkonflikt zwischen Demokratie und Autoritarismus“ konstatiert. Wenn auch Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine einen „Rückfall […] in die Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts“ und einen „Zivilisationsbruch“ darstellt, so hat doch „der mit dem Autoritarismus verbundene Machtanspruch […] seine entscheidende Basis in China“, das in der systematischen Auseinandersetzung vor „illegalen Instrumenten wie völkerrechtswidrigem Gewalteinsatz oder auch Cyberattacken“ nicht zurückschreckt: „Auf diesen Systemkonflikt müssen wir, Europa und der Westen, eine strategische Antwort finden. Es ist die Frage von Sein oder Nichtsein.“
Im zweiten Teil seiner Autorenlesung trug Röttgen dann auch Teile des China-Kapitels seines Buches vor, machte deutlich, wie eng die Verflechtung der deutschen Wirtschaft mit China in strategischen Bereichen ist:
„Für eine ganze Reihe von großen Unternehmen in den Bereichen vor allem der Automobilindustrie, der Chemieindustrie, der pharmazeutischen Industrie und in Teilen des Maschinenbaus ist der chinesische Markt mit seiner Größe und Unersättlichkeit das entscheidende Standbein, die entscheidende Quelle der Unternehmensgewinne und die Basis für das Standing im Kapitalmarkt. Mercedes und Volkswagen setzen nirgendwo so viele Autos ab wie in China.“
Ist diese Verflechtung unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten nachvollziehbar, so ist ihre Dimension unter geopolitischen Gesichtspunkten hochproblematisch, da sie im Konfliktfall ein noch weit größeres Erpressungspotential begründet als die Energieabhägigkeit von Russland:
„Die strategische Abhängigkeit einzelner Unternehmen vom chinesischen Markt ist die eine Sache. Die andere Sache ist, dass diese Unternehmen strategische Sektoren der deutschen Volkswirtschaft repräsentieren. Damit wird die Abhängigkeit eines einzelnen Unternehmens mindestens zur Gefahr der Abhängigkeit unserer Volkswirtschaft und damit unseres Landes schlechthin. Wie wir mit dieser Abhängigkeit umgehen sollen, die in ihrer ökonomischen Bedeutung weit über die Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energielieferungen hinausgeht, ist in der deutschen Politik unbeantwortet.“
In der abschließenden Passage aus dem Kapitel „Auf Deutschland kommt es an“ plädierte Röttgen für eine aktivere deutsche Außenpolitik, die Übernahme von mehr Verantwortung, und die Einsicht, dass Frieden und Freiheit einen Preis haben.
Das trotz extremer Hitze interessierte Bitburger Publikum erlebte so einen lehrreichen geopolitischen Rundumschlag auf Basis eines streitbaren Manifests, vorgetragen von einem trotz gegenwärtiger Krisenlage aufgeräumt wirkenden Norbert Röttgen, der sich viel Zeit nahm, alle Fragen eingehend zu beantworten und selbstverständlich sein Buch am Ende der Veranstaltung auch zu signieren.
Norbert Röttgen. „Nie wieder hilflos. Ein Manifest in Zeiten des Krieges“. dtv Verlag, 144 Seiten, €14,- (E-Book €10,99)
Als gelernter Rechtsanwalt und Berufspolitiker hatte man ja einen richtigen Spezialisten in Sachen Energieversorgung auf der Bühne ! Als nächstes schreibt er wahrscheinlich noch ein Kochbuch, Märchenbuch und ein Buch über Raumfahrt! Warum übrigens hat die CDU Regierung sich vor 10 Jahren nicht für die Verlängerung der TAP Pipeline aus Aserbaidschan bis nach Deutschland eingesetzt? Hat er darauf auch eine Antwort?