Trier: „Erfolgsmodell der Antike“ – Schatzkammer zeigt Ausstellung über römisches Kulturerbe im Mittelalter

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Der Leiter der Wissenschaftlichen Bibliothek der Stadt Trier, Prof. Dr. Michael Embach, in der Schatzkammer. Foto: Alexander Scheidweiler

TRIER. Die große Landesausstellung „Der Untergang des Römischen Reiches“ lockt in Trier derzeit viele Besucher an. In drei Museen – Rheinisches Landesmuseum, Stadtmuseum Simeonstift und Museum am Dom – geht die Ausstellung der Frage nach, wie und warum das Römische Reich in der Spätantike unterging (Lokalo berichtete). Begleitend zur Landesausstellung präsentiert die Wissenschaftliche Bibliothek der Stadt Trier in der Schatzkammer eine Ausstellung, die das Fortleben der römischen Bildung im Mittelalter thematisiert und dabei hochkarätige Leihgaben aus Straßburg und Leiden zeigt. Lokalo hat mit dem Leiter der Wissenschaftlichen Bibliothek, Prof. Dr. Michael Embach, über die Ausstellung in der Schatzkammer gesprochen.

Lokalo: Herr Professor Embach, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für ein Gespräch mit Lokalo nehmen. Begleitend zur großen Landesausstellung „Der Untergang des Römischen Reiches“ bieten Sie in der Schatzkammer der Wissenschaftlichen Bibliothek eine Ausstellung mit dem Titel „Das Fortwirken Roms in der Bildungsgeschichte des Mittelalters“ an. Sie betonen also schon vom Titel Ihrer Ausstellung her weniger den Aspekt des Untergangs als denjenigen der Kontinuität, richtig?

Embach: Das ist zutreffend. Dieser Ansatz basiert im Grunde auf einer allgemeinen Erfahrung, die ich im Zuge meiner Beschäftigung mit historischen Stoffen immer wieder machen konnte: Wenn man ein historisches Phänomen in seiner Gesamtheit erfassen möchte, sollte man den Aspekt der Wirkungsgeschichte einbeziehen – und das gilt selbstverständlich auch für diese epochale Wende von der Antike zum Mittelalter. Hier kann man feststellen: Auf der einen Seite ist das Römische Reich als politische Institution, als administrative Institution verschwunden. Es ist auch vieles verschwunden, was den Bereich der Zivilisation angeht. Aber es gibt auch den gegenteiligen Aspekt: das Weiterwirken, das Fortwirken. Dieser Aspekt betrifft v.a. den Bereich der Kultur und der Bildung.

Lokalo: Die entscheidende Brücke für die Weitergabe antiker Bildung an das Mittelalter war das System der Sieben Freien Künste (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie). Ihre Ausstellung behandelt dieses System ausführlich. Was hat es damit genau auf sich?

Embach: Die Sieben Freien Künste bilden die Leitvorstellung. Jede Ausstellung braucht eine Konzeption, und wir greifen hierfür auf die Konzeption der Sieben Freien Künste – der Septem artes liberales auf Latein – zurück, weil sie vom Ursprung her eine antike Konzeption ist. Sie ist im griechischen Bereich entwickelt worden, wurde von Rom aufgegriffen und war über Jahrhunderte die Schlüsselqualifikation für die römische Verwaltungselite. Man musste die Sieben Freien Künste durchlaufen haben, um in dieser Gesellschaft eine verantwortungsvolle Position bekleiden zu können.

Das Mittelalter hat dieses Erfolgsmodell der Antike und des römischen Staates begierig aufgegriffen. Es gibt Vermittlungsgestalten, zu denen Boethius, Augustinus, Cassiodor und Martianus Capella gehören und die wussten: Wenn wir diese antike Konzeption weiterführen, dann werden wir Erfolg haben. Das war die Perspektive, wobei man einschränkend hinzufügen muss, dass es weltanschauliche Anpassungen gegeben hat. Die Christianisierung dieser paganen Konzeption war die Voraussetzung dafür, dass sie unter veränderten weltanschaulichen Gegebenheiten weiterfunktionieren konnte.

Darstellung der Sieben Freien Künste aus dem „Hortus deliciarum“ (Straßburg, Médiathèque André Malraux, Sign. A 481). Foto: Alexander Scheidweiler

Lokalo: Sie haben es bereits angesprochen: Auch wenn das Christentum Ende des 4. Jahrhunderts im Römischen Reich Staatsreligion wurde, so ist doch die populäre Vorstellung häufig die, dass das christliche Mittelalter mit den geistigen Traditionen der Antike brach. Das ist aber so nicht ganz richtig. Welche Rolle spielte das Christentum bzw. die Kirche beim Fortleben der antiken Bildung im Mittelalter?

Embach: Man kann sicher sagen, dass die Kirche über Jahrhunderte hinweg die Bildungselite repräsentierte. Wenn man sich mit den genannten und anderen, in diesem Kontext einschlägigen Autoren beschäftigt, dann merkt man, dass es auf der einen Seite eine gewissen Ablehnungsrhetorik gab, im Sinne von: Wir möchten uns distanzieren vom Heidentum, von diesen fest verwurzelten Häresien. Die Göttervorstellung der Antike war natürlich nicht vereinbar mit der christlichen Lehre.

Auf der anderen Seite gab es aber eine subkutane Form der Übernahme dieser antiken Bildung. Das wurde häufig damit begründet, dass man gesagt hat: Wir beschäftigen uns mit der heidnischen Antike v.a. deshalb, weil wir besser Latein lernen möchten. Und die gute Kenntnis des Lateinischen – man könnte das auch auf das Griechische ausdehnen – ist die zentrale Voraussetzung für das Verständnis der Bibel.

Das war sozusagen die Exkulpierung dieser klugen Leute, die sich ja auch gewissermaßen selbst absichern mussten. Man war im Mittelalter schnell der Häresie angeklagt. Daher war das Hauptargument: Wir beschäftigen uns mit der Antike um unsere genuinen, eigenen Interessen besser wahrnehmen zu können.

Die Gemma Constantitiana. (Leiden, Rijksmuseum van Oudheden, Inv.-Nr. GS-11096). Foto: Alexander Scheidweiler

Lokalo: Relativ bekannt, auch bei Nicht-Fachleuten, dürfte das Konzept der Translatio imperii sein, mit dem in der Geschichtstheologie der Kirchenväter die aus den Prophetien des Alten Testaments entwickelte Vorstellung bezeichnet wird, die Weltherrschaft werde im Lauf der Geschichte analog zum Sonnenlauf von Imperium zu Imperium weitergereicht. Wie ich aus Ihrem Beitrag im Ausstellungskatalog zur Landesausstellung gelernt habe, gibt es aber auch die Vorstellung der Translatio artium. Vielleicht könnten Sie dies etwas erläutern.

Embach: Dabei handelt es sich sozusagen um hermeneutische Kategorien, mit denen man im politischen Bereich operiert hat: Translatio imperii bedeutet, dass die Herrschaft von den Römern auf die Franken übergegangen ist, von den römischen Kaisern auf Karl den Großen, der sich ja nicht verstanden hat als Schöpfer eines neuen Kaisertums, sondern als Imperator Romanorum, als Kaiser der Römer. Analog dazu gibt es im Bereich der Bildung die Vorstellung, dass auch die Bildung einen genuinen Wechsel vollzogen hat, von den Römern auf die Franken übergegangen ist, auf dieses Nachfolge-Imperium, das man von der Ausdehnung in etwa vergleichen kann mit dem Kernbereich des Römischen Reiches. Es handelte sich um ein Modell, um Akzeptanz zu erzeugen, um zu sagen: Wir haben keine Diskontinuität, sondern Kontinuität, keine Zäsur, keinen Bruch, sondern wir übernehmen das, was organisch gewachsen ist aus der Antike und führen es behutsam in unserer eigenen Lebenswelt weiter.

Lokalo: Ihrer Ausstellung dienen eine Miniatur aus dem Straßburger „Hortus deliciarum“ des 12. Jahrhunderts sowie eine römische Staatskamee als Leitobjekte. Was macht diese beiden Exponate zu Leitobjekten?

Embach: Das lässt sich sehr schön beschreiben: Beim „Hortus deliciarum“ handelt es sich um die berühmteste Bilddarstellung der Sieben Freien Künste aus dem Mittelalter. Ich will es mal so sagen: In vielen, vielen Lehrbüchern, auch Schulbüchern, zum Mittelalter erscheint diese Darstellung. Deswegen schien sie uns sehr geeignet, um an ihr den geistigen Horizont darzustellen, der sich dahinter verbirgt. Eine Ausstellung braucht schließlich Visualisierungen.

Beim „Hortus deliciarum“ verhält es sich leider so, dass das Original der Handschrift nicht mehr existiert, da sie dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870 zum Opfer gefallen ist, als die Preußen auf die Idee gekommen sind, die Stadtbibliothek von Straßburg zu bombardieren, mit der Begründung, die Stadt habe nicht frühzeitig genug ihre Übergabe signalisiert. Ein ganz schreckliches Ereignis!

Man hatte aber im 19. Jahrhundert in Paris Bildreproduktionen hergestellt, faksimileartige Nachbildungen der Hauptminiaturen. Das, was wir heute zeigen, ist ein Druck aus dem Jahre 1818. Dies ist die erste gedruckte Fassung dieser wirklich phantastischen Miniatur zu den Sieben Freien Künsten. Dieses Dokument wurde noch nie zuvor außerhalb von Frankreich gezeigt. Es gab also ein großes Entgegenkommen der Mediathek in Straßburg. Wir können an dieser Miniatur die gesamte didaktische Konzeption, die sich dahinter verbirgt, erklären.

Das zweite Objekt, die Gemma Constantiniana, stammt aus Leiden, vom dortigen Museum für Altertumskunde. Die Gemma ist ein hochberühmtes Objekt, das für uns aus zwei Gründen interessant ist: Zum einen könnte man sagen, dass es sich um ein Parallelobjekt zur Gemme im Einband unseres Ada-Evangeliars handelt. Auch dort ist die Familie Kaiser Konstantins des Großen im Siegesgestus zu sehen, im Gestus der Vergöttlichung, der Apotheose. Und die Gemme aus Leiden zeigt Konstantin als den Kämpfer und als den Sieger, der im Begriff ist, die Feinde Roms zu zerstampfen. Das nimmt Bezug auf seinen Sieg in der Schlacht an der Milvischen Brücke. Dahinter steht der Mythos von Konstantin als dem ersten christlichen Kaiser – Stichwort Kreuzesvision – und natürlich der Mythos von Konstantin als dem ersten Alleinherrscher des Weströmischen Reiches.

Wir besitzen in unserem Bestand Handschriften mit Texten und Abbildungen, die diesen Mythos weiterführen. Dabei handelt es sich um gängiges Anschauungsmaterial des Mittelalters: Wenn man die Kaiserideologie des Mittelalters betrachtet, dann steht am Anfang stets Konstantin als Pioniergestalt des christlichen Kaisertums. Wir glauben, dass in der Ausstellung ein Dialog zwischen diesen beiden Gemmen entsteht, der etwas Besonderes ist, denn das hat es noch nie gegeben, dass in einem Ausstellungsraum die beiden bedeutendsten römischen Staatskameen des 4. Jahrhunderts gemeinsam zu sehen sind! Es gibt übrigens auch noch immer offene Fragen nach der Datierung, nach dem Personenprogramm.

Einband des Trierer Ada-Evangeliars mit Konstantin-Kameo im Zentrum (Wissenschaftl. Bibliothek der Stadt Trier, zu Hs 22). Foto: Alexander Scheidweiler

Lokalo: Blicken wir zum Abschluss noch einmal nach vorne. Ihre Ausstellung befasst sich damit, wie das Mittelalter sich antike Bildungsbestände anverwandelt hat. Können wir in der Moderne etwas daraus lernen, wie die Menschen des Mittelalters mit den antiken Bildungsgütern umgegangen sind?

Embach: Das scheint mir durchaus möglich und auch sinnvoll zu sein. Man kann sicher sagen, dass das Mittelalter zum einen eine Epoche war, die in einem hohen Maße sich selbst gegenüber affirmativ gewesen ist. Die Menschen des Mittelalters lebten aus dem Gefühl, dass in ihrer Zeit gewisse perspektivische Leitlinien der Geschichte, auch der Kirchengeschichte, zur Erfüllung kommen. Diesen Gedanken muss man erstmal zur Geltung kommen lassen – kein gebrochenes Selbstbewusstsein, sondern ein Sendungsbewusstsein.

Auf der anderen Seite gibt es eine große Offenheit und die Kraft, auf Inhalte zuzugreifen, die, in welcher Hinsicht auch immer, sich als nützlich erweisen könnten. Und das ging quer durch die Kulturen. Das Mittelalter hat nicht nur auf die römische Antike zurückgegriffen: Es gab irgendwann Leute, die sehr gut Griechisch konnten und griechische Texte übersetzten, z.B. die Werke des Euklid. Diese wurden ins Lateinische übersetzt und traten von dort aus ihren Siegeszug an. Ferner hat es überhaupt keine Berührungsängste zur arabischen Welt gegeben. Wir haben Texte aus der griechischen Philosophie, die irgendwann nur noch in arabischen Fassungen greifbar waren. Auch diese wurden dann ins Lateinische übersetzt und haben von dort aus weitergewirkt. Schließlich haben wir den Rückgriff auf die jüdische Überlieferung.

Ich würde sagen, diese Offenheit und diese Selbstsicherheit, diese affirmative Haltung zu sich selbst, könnte für uns heute ein Modell sein. Dass man sagt: Wir sind offen für alles, was dazu beiträgt, dass unsere Gesellschaft stabil bleibt, intakt bleibt, und wir haben überhaupt keine Berührungsängste, sondern das ist ein offener Diskurs, der hier gepflegt wird und den wir schützen müssen.

Lokalo: Aber eben auch mit einem gewissen Selbstbewusstsein.

Embach: So ist es. Wir sind, glaube ich, nicht gezwungen, uns in eine defensive Position zurückzuziehen. Aber man kann lernen, diese bewährten Verhaltensweisen wertzuschätzen für die eigene Zeit. Man hat ein Modell, an dem man belegen kann: Das hat funktioniert. Und das ist, glaube ich, eine Botschaft, die aus dieser sehr stark historischen Thematik weiterwirkt, synchron wird für unsere heutige Zeit.

Lokalo: Herr Professor Embach, ich bedanke mich für das Gespräch.

Embach: Sehr gerne.

Die Fragen stellte Alexander Scheidweiler.

Die Ausstellung in der Schatzkammer ist noch bis zum 27.11. zu sehen. Weitere Informationen auf der Homepage.

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