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TRIER. Der „Dies academicus“, der im letzten Jahr coronabedingt aufgefallen war, bildete gestern wieder den feierlichen Auftakt der Universität Trier zum Wintersemester. In ihrem Festvortrag gab die Augsburger Historikerin Prof. Dr. Britta Waldschmidt-Nelson einen geschichtlichen Abriss der deutsch-amerikanischen Beziehungen – und erklärte, warum die transatlantische Partnerschaft weiter wichtig bleibt.
Von Alexander Scheidweiler
Ein „akademisches Viertel“ gab es am gestrigen Mittwoch im Audimax der Universität Trier nicht. Vielmehr forderte Universitätspräsident Prof. Dr. Michael Jäckel die Anwesenden schon ein paar Minuten vor Beginn des Festakts zum „Dies academicus“, dem feierlichen Auftakt zum Wintersemester, auf, ihre Plätze einzunehmen: „Sonst wird es zeitlich zu eng.“ Und tatsächlich wollte ein recht umfangreiches Programm in der etwa zweistündigen Veranstaltung absolviert werden, die vom Collegium Musicum der Universität unter der Leitung von Musikdirektor Mariano Chiacchiarini eröffnet wurde.
Jäckel äußerte die Hoffnung, dass trotz der sich wieder verschärfenden Corona-Lage das für den 3.7. des kommenden Jahres geplante Konzert des Collegium, bei dem Mahlers Auferstehungssymphonie gespielt werden soll, stattfinden kann. Traditionsgemäß erinnerte er an die im zurückliegenden Jahr verstorbenen Professorinnen und Professoren der Universität sowie an den bereits 2020, kurz vor Beginn der Corona-Pandemie, verschiedenen Gründungspräsidenten, den Politologen Prof. Dr. Arndt Morkel. Die geplante Gedenkfeier habe man mehrfach verschieben müssen. Noch immer sei es bedauerlicherweise nicht möglich gewesen, sie durchzuführen. Von Morkel stamme auch der schöne Satz „Eine Universität ist niemals fertig“, der der Notwenigkeit Ausdruck verleihe, sich immer weiterzuentwickeln, so Jäckel.
Sodann leitete der Universitätspräsident zum diesjährigen Festvortrag über: „Zum Dies academicus gehört, dass wir uns einem aktuellen Thema widmen.“ Dieses Thema sei im Jahr 2021 das Verhältnis der USA zu Deutschland und Europa. Man freue sich, als Vortragende mit der an der Universität Augsburg lehrenden Historikerin Prof. Dr. Britta Waldschmidt-Nelson eine ausgewiesene Expertin für den europäisch-atlantischen Raum gewonnen zu haben, die sich u.a. mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung befasst, eine Biographie über Malcolm X geschrieben und in ihrer vormaligen Tätigkeit als stellvertretende Direktorin des Deutschen Historischen Instituts Washington die amerikanische Politik aus der Nähe beobachtet hat.
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Waldschmidt-Nelson stellte ihrem Vortrag mit dem Titel „Amerika – Fremder Freund? Das Verhältnis der Deutschen zu den USA“ die Bemerkung voran, dass sie Trier persönlich sehr eng verbunden sei, da Trier die Heimatstadt ihrer Mutter ist. Den Vortrag eröffnete sie mit der Feststellung, dass wohl kein Land in den vergangenen rund 100 Jahren so stark von den USA geprägt wurde wie Deutschland – Struktur, Verfassung und Kultur sähen ohne die USA anders aus. Doch auch die USA wurden von den zahlreichen Deutschen geprägt, die seit dem 17. Jahrhundert nach Amerika auswanderten. So bezeichneten sich heute rund 47 Millionen Amerikaner als deutschstämmig, womit die deutschstämmigen Amerikaner die größte Gruppe in den USA darstellen, größer sogar als die italienisch- und irischstämmigen. Waldschmidt-Nelson erinnerte in diesem Zusammenhang an bedeutende Deutschamerikaner wie Frederick August Muhlenberg, der 1789 zum ersten Vorsitzenden des Repräsentantenhauses gewählt wurde, den 48er-Revolutionär, späteren Bürgerkriegsgeneral der Nordstaaten, Senator und Innenminister Carl Schurz sowie den ehemaligen Nationalen Sicherheitsberater und Außenminister Henry Kissinger.
Die historische Entwicklung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses gliedere sich, so Waldschmidt-Nelson, in vier Phasen, deren erste von 1680 bis 1880 reicht und von nationaler Konsolidierung und Migration geprägt ist, worauf Industrialisierung und Expansion in der zweiten Phase (1880 bis in die 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts) folgen, sodann, nach dem Zweiten Weltkrieg, die Einbindung der Bundesrepublik in das System der Westmächte in der dritten Phase, die bis zum Mauerfall reicht, und schließlich die bis in die Gegenwart reichende vierte Phase, in der die USA und Deutschland einander als souveräne Partner begegnen.
Kamen in der ersten Phase aus Deutschland zunächst häufig Glaubensflüchtlinge nach Amerika, wie etwa Täufer, Mennoniten, Hutterer und Amische, für die die Aussicht auf freie Religionsausübung entscheidend war, so traten im 19. Jahrhundert wirtschaftliche Motive in den Vordergrund. Zugleich wurde die demokratische Republik, die mit der Verfassung von 1787 begründet wurde, zur politischen Utopie liberaler Europäer. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 flohen viele deutsche Revolutionäre in die USA und schlossen sich dort nicht selten der Anti-Sklaverei-Bewegung an. Mit der deutschen Reichsgründung entstand andererseits ein im Kern autoritäres System, zugeschnitten auf den Kaiser, in dem die Regierung dem Parlament nicht verantwortlich war.
Mit der nationalen Konsolidierung Deutschlands und dem Weltmachtstreben Wilhelms II. traten zusehends Spannungen im deutsch-amerikanischen Verhältnis zutage, etwa beim Konflikt um Samoa, der zur Teilung der Inselgruppe zwischen dem deutschen Kaiserreich und den USA im Jahre 1900 führte. In beiden Weltkriegen gab das Eingreifen der zunächst zögerlichen USA den Ausschlag für die deutsche Niederlage. Gleichzeitig bildete sich in Deutschland ein kultureller Antiamerikanismus heraus: Wilhelm II. betonte stets die aus seiner Sicht gegebene Überlegenheit der deutschen Kultur, ein Erbe, das die Rechte der Weimarer Republik mit dem Vorwurf der Kulturlosigkeit gegen die USA fortführte, während die Linke in den USA einen „seelenlosen, kapitalistischen Moloch“ sah. Hitler selbst bewunderte die industrielle Leitungsfähigkeit der USA und zeichnete den antisemitisch eingestellten Henry Ford sogar mit dem Adlerschild des Deutschen Reiches aus, unterschätzte die USA insgesamt aber wegen ihrer großen jüdischen und afroamerikanischen Bevölkerung, die im Sinne der NS-Ideologie als minderwertig betrachtet wurde.
In der dritten Phase, nach dem Zweiten Weltkrieg, wiederholten die USA nicht den Fehler der Zwischenkriegszeit, sich aus Europa zurückzuziehen und banden die Bundesrepublik ins westliche Bündnissystem ein. CARE-Pakete, Marshallplan und Luftbrücke lösten eine große persönliche Dankbarkeit vieler Westdeutscher gegenüber den USA aus. Zentrale außenpolitische Entscheidungen der jungen Bundesrepublik wie Wiederbewaffnung und NATO-Beitritt gingen wesentlich auf das Betreiben der USA zurück. Während es immer auch Kritik an den USA gab – z.B. bezogen auf den Vietnamkrieg, den Umgang mit der Bürgerrechtsbewegung oder den NATO-Doppelbeschluss – wurden die USA von der westdeutschen Bevölkerung im Großen und Ganzen als wohlwollender Hegemon gesehen und akzeptiert. Als die Mauer fiel, kam George Bush dem Vater eine Schlüsselrolle bei der deutschen Wiedervereinigung zu, der Briten und Franzosen zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden.
In der vierten Phase stellte das Ende des Kalten Krieges und damit die abnehmende Bedeutung des militärischen Schutzes durch die USA eine grundlegende Veränderung dar. Zunächst, in der Präsidentschaft von Bill Clinton, änderte sich aber scheinbar wenig. Erst nach der umstrittenen Wahl von George W. Bush im Jahre 2000 kam es zu größeren Differenzen: Gab es unmittelbar nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 große Symptahie- und Solidaritätsbekundungen in Deutschland, so stieß die Invasion des Irak 2003 auf heftige Kritik, auch wegen der religiös gefärbten Rhetorik, die der evangelikal geprägte Präsident in diesem Zusammenhang verwendete („Kreuzzug“, „Achse des Bösen“). Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg stellte sich eine deutsche Regierung in einer wesentlichen Frage offen gegen den außenpolitischen Kurs der USA – es kam zur schwersten Krise im transatlantischen Verhältnis seit 1945.
Der sehr viel stärker auf Multilateralismus setzende Barack Obama hingegen erfreute sich in Deutschland großer Beliebtheit, wobei Waldschmidt-Nelson darauf hinwies, dass der erste schwarze Präsident bei den Deutschen stets sehr viel mehr Zustimmung hatte als bei den Amerikanern und insbesondere diejenigen politischen Projekte Obamas, die die Deutschen ganz besonders begrüßten, etwa die Gesundheitsreform oder die Unterzeichnung des Pariser Klimaschutz-Abkommens, in den USA hochumstritten waren. In den USA populäre Entscheidungen Obamas hingegen, z.B. die Ausweitung des Einsatzes bewaffneter Drohnen, stießen bei den Deutschen auf Ablehnung. Donald Trump, der durch seinen rücksichtslosen Unilateralismus und sein rüpelhaftes Auftreten in Deutschland noch unbeliebter war als Richard Nixon und George W. Bush, beschädigte nicht zuletzt durch den von ihm angestachelten Sturm seiner Anhänger auf das Kapitol das Ansehen der amerikanischen Demokratie massiv, auch wenn die Institutionen der USA sich letztlich als resilient erwiesen.
Sein Nachfolger Joe Biden wird als erfahren, vernünftig und vertrauenswürdig gesehen, insbesondere sein Wiedereinstieg in das Pariser Abkommen und das Festhalten am START-Vertrag werden in Deutschland positiv gewertet. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, so Waldschmidt-Nelson, dass dennoch Interessen- und Meinungsunterschiede fortbestehen: den missglückten Afghanistan-Abzug setzte die Regierung Biden ins Werk, ohne sich mit den Verbündeten abzustimmen, die Gas-Pipeline Nord Stream 2 sieht die Biden-Regierung nach wie vor äußerst kritisch und auch bei den Verteidigungsausgaben pocht sie unverändert auf die Einhaltung des 2%-Ziels.
Waldschmidt-Nelson betonte, dass ein Teil des amerikanischen Selbstverständnisses den Deutschen wohl immer fremd bleiben wird, namentlich die Überzeugung, als Nation eine menschheitsgeschichtliche Mission zu haben, die sich aus der Erfahrung der Frontier, der Zivilisationsgrenze im Westen, sowie dem Gründungsmythos, der Amerika in religiöser Metaphorik als leuchtende Stadt auf dem Hügel begreift, speist. Aus diesen Quellen entstand die für die USA charakteristische Zivilreligion, der „American Creed“. Trotz dieser partiellen Fremdheit sowie der seit dem Ende des Kalten Krieges gesunkenen Bedeutung Amerikas als militärischer Schutzmacht bleibe das transatlantische Verhältnis für beide Seiten wichtig, so Waldschmidt-Nelson. Deutschland und die USA sind durch eine enge wirtschaftliche Verflechtung, ein gemeinsames Wertefundament sowie nicht zuletzt viele persönliche Freundschaften verbunden. Auch in geopolitischer Perspektive bietet sich für Europa keine attraktive Alternative zu einer starken globalen Rolle der USA, da sonst die Gefahr bestünde, dass ein diktatorisches China das Vakuum füllt. Aber auch die USA brauchen, trotz ihrer Hinwendung zum pazifischen Raum und der Konzentration auf den Rivalen China, die Unterstützung der Europäer, um globale Probleme vom internationalen Terrorismus über den Klimawandel bis zur Pandemiebekämpfung wirksam angehen zu können.
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Nach dem Festvortrag verlieh die Vizepräsidentin der Universität, Prof. Dr. Ulrike Gehring, den DAAD-Preis für ausländische Studierende an die Luxemburgerin Anne Josette Schaaf. Es folgte die Verleihung der durch Unternehmen und Einrichtungen in Trier und der Region geförderten und durch den Freundeskreis Trierer Universität koordinierten Förderpreise für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Geehrt wurden für ihre herausragenden Dissertationen die neun frischgebacken Doktorinnen und Doktoren Lina Baldus (Anglistik), Nikolas Peter Kau (Jura), Tobias Kranz (Volkswirtschaft), Joscha Krause (Volkswirtschaft), Jessica Natascha Prinz (Psychologie), Hannah Schlimpen (Romanistik), Jana Schollmeier (Jura), Johannes H. Stricker (Psychologie) und Eva-Maria Windberger (Anglistik).
Im Anschluss an den Festakt luden die Universität und der Freundeskreis zum gemeinsamen Empfang bei Wein und Laugengebäck in das Untergeschoss der Mensa.