Lokalo-Exklusiv: „Mein Jahr in Büchern“ – der literarische Jahresrückblick von Florian Valerius (Teil 1/2)

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Florian Valerius, Buchhändler und Influencer aus Trier

TRIER. Florian Valerius, geboren in Trier, hat seinen eigenen Weg gefunden, Menschen zum Lesen zu bringen. 2016 rief er den Instagram Account @literarischernerd ins Leben und ist heute mit über 21.000 Followern der erfolgreichste Buchblogger Deutschlands – er nutzt #bookstagram als modernen und authentischen Weg, um Menschen und Literatur zusammenzubringen. Valerius wurde dafür mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht und sitzt u.a., auf Bitten des Bundeskanzleramts, in der Jury des Deutschen Verlagspreises.

Seine Leidenschaft lebt er auch täglich in der analogen Welt aus, denn Valerius ist seit 2004 Buchhändler mit Leib und Seele und mittlerweile Filialleiter der Universitätsbuchhandlung Stephanus in Trier.

Für lokalo.de war Florian so nett, einen ganz persönlichen literarischen Jahresrückblick zu erstellen. Seine eigenen Jahreshighlights mit Herz und Verstand – eine Anregung für alle Leser*innen und diejenigen, die es noch werden wollen:

Mein Jahr in Büchern, von Florian Valerius

Januar:

Es war gerade mal Januar und ich befürchtete, dass ich das beste Buch des Jahres bereits gefunden hatte. Lange schon habe ich kein so poetisches, spannendes, philosophisches und großartiges (Sach-)Buch wie „Das Evangelium der Aale“ von Patrik Svensson, erschienen bei Hanser, übersetzt von Hanna Granz, mehr gelesen. Einerseits eine Kulturgeschichte des wohl faszinierendsten Wesen dieses Planeten: den Aal – und eine wunderschöne, bewegende Vater-Sohn Geschichte. Ich muss gestehen, dass Buch triggerte mich schon deswegen, weil auch ich als Kind – wie der Autor- mit meinem Vater oft zum Angeln fuhr (und auch Aale in unserer Badewanne schwammen) -und auch die Beziehung, die hier geschildert wird, meiner zu meinem Vater sehr, sehr ähnlich ist. Was ich jedoch nicht wusste, war, dass der Aal seit der Antike die Menschheit mit all seinen Mysterien so derart bewegt und beschäftigt. Angefangen mit Aristoteles, über Sigmund Freud, bis hin zu Günter Grass und Rachel Carson. Und viele, viele mehr, die sich mit dem Aal und all seinen Geheimnissen im Laufe der Jahrhunderte beschäftigt haben. (Diese naturwissenschaftlichen Rätsel sind bis heute teilweise ungelöst!) Am Ende ist dieses Buch nichts weniger als eine tiefgründige Meditation über das Leben und den Tod. Das Suchen. Und die Grenzen der Wissenschaft- und den kleinen Spalt zwischen Fakten & Wissen und Mysterium & Fantasie. Ich könnte jetzt noch Stunden über den Aal reden… …und zum Glück gab es 2020 dann doch auch noch weitere literarische Highlights!

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/das-evangelium-der-aale/978-3-446-26584-4/

Februar:

Die Geschichten von Nicole Flattery sind ein Schlag in die Magengrube. Erst schmunzelt man, oft lacht man – dann aber kommt die Verunsicherung. Ganz langsam. Subtil schleicht sie sich ins Hirn der Leser. Man wundert sich, stolpert über Nebensätze, hinterfragt Gesten – kleine, surreale Momente. Man ist verwirrt, verunsichert – und irgendwann verstört. Zu lachen hat man dann längst nichts mehr – stattdessen: ein großes, unangenehmes, (für mich) nicht benennbares Gefühl im Magen. Ganz tief und ganz unten. „Zeig ihnen, wie man Spaß hat“ – Worum geht es im Debut der Irin? Acht Erzählungen über Mädchen/ Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. (Oder auch nicht?) Acht Geschichten über Frauen in dieser Welt, in dieser Gesellschaft. Frauen, die sehr passiv sind, die oft nicht ins „Schema“ passen, die anders sind. Die anecken. Frauen, denen Leid widerfahren ist. Frauen, die überleben in dieser/einer wahnsinnigen Welt. Flattery schreibt eindringlich, verführerisch – und grausam. Ich liebe ihre Sätze, ihre Metaphern, ihre Vergleiche, ihre Bilder. „Er sah aus wie eine Kleinstadt, in der ich leben und sterben würde.” Ein Satz zum niederknien. Das Buch ist voll von solchen Sätzen. Nicht jede Geschichte kann das Niveau halten, eine ist z.B. viel zu lang – aber der Großteil ist sehr sehr sehr beeindruckend und stark. Eine geniale Entdeckung. Ich bin arg verliebt. „Zeig Ihnen, wie man Spaß hat“, erschienen bei Hanser Berlin, übersetzt von Tanja Handels. Absolute Leseempfehlung.

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/zeig-ihnen-wie-man-spass-hat/978-3-446-26587-5/

März:

Kennt ihr den „Tschick“-Effekt? Wahrscheinlich nicht – den hab ich nämlich vor Jahren für mich erfunden: Damals war der Hype um den Roman „Tschick“ so groß, dass ich nur dachte: Bleibt mir weg damit – dann wurde ich doch schwach und habe ihn gelesen. Mit der Prämisse, dass ich ihn hassen werde. Nun gut. Ich wurde eines besseres belehrt. Ich hab ihn geliebt. Und dann war da irgendwann „Kurt“. Geschrieben von Sarah Kuttner, die irgendwie immer Teil meines (TV-)Lebens war (und mehr eben aber auch nicht), erschienen im S.Fischer Verlag. Kurt war plötzlich überall in den sozialen Medien – und alle liebten es und ich wieder so: „Wah – Never.“ Na ja, dann ist das Taschenbuch erschienen – und wieder wurde ich schwach und wollte dieses Buch so sehr dissen. Aber – sorry: ich liebe es ganz arg. Lena liebt den großen Kurt. Der hat einen kleinen Kurt aus einer früheren Beziehung. Lena und Kurt (der große) kaufen ein Haus in Brandenburg. Kurt (der kleine) ist alle 2 Wochen da, die Exen verstehen sich noch sehr gut, die Erziehung wird brav geteilt. Und dann stirbt der kleine Kurt. Und plötzlich ist es, als würden alle Farben verschwinden. Und das Leben ist nicht mehr dasselbe. Der Trauerprozess beginnt. Die Kuttner hat etwas wunderbares geschaffen: Sie hat eine herzerwärmende Geschichte geschrieben, die so ehrlich, so schön und so traurig ist, dass es schmerzt. Und dabei großartig unaufgeregt ist. Ich alter Stein habe geweint beim lesen. Aber auch gelacht, manchmal geschmunzelt, oft genickt. Und das Buch beseelt beendet. Man hat das Gefühl, man kennt all diese Menschen: Als seien es gute Freunde. Man fühlt ihre Unsicherheiten, ihre Probleme, ihre Trauer und ihren Schmerz. Weil dieser Roman zutiefst menschlich ist. Und was kann man Schöneres von einer Geschichte behaupten? Danke, Frau Kuttner!

https://www.fischerverlage.de/buch/sarah-kuttner-kurt-9783596523030

April:

Ein absolutes Frühjahrs-Highlight war für mich „Die Optimisten“ von Rebecca Makkai. Ein großer amerikanischer Roman (nominiert für den Pulitzer Prize und den National Book Award, der auf rund 600 Seiten eine großartige, bewegende Freundschaftgeschichte erzählt. Eine Geschichte, die 30 Jahre umspannt, die 1985 in Chicago beginnt und 2015 in Paris endet. Ich bin überwältig und hatte am Ende Tränen in den Augen. „Die Optimisten“ ist ein Buch, das man zuschlägt, und dann die Figuren vermisst. Aus tiefstem Herzen. Ein Phänomen, das auf viele amerikanische Gesellschaftsromane zutrifft: Es treten viele Charaktere auf und nach und nach, man bemerkt es beim Lesen kaum, wird man immer mehr in das Geschehen hineingezogen. Man schlägt das Buch zu und ist einfach traurig, weil man die Menschen, die man über so einen langen Zeitraum begleitet hat, nicht mehr loslassen will. Es ist ein wichtiges Buch, das Themen wie die Diskriminierung homosexueller Menschen und den gesellschaftlichen Umgang mit HIV thematisiert. Und die Fragilität zwischenmenschlicher Beziehungen. Dass ein Gemälde von Amedeo Modigliani das Cover ziert, kommt auch nicht von ungefähr: Auch die Epoche der „Lost Generation“ spielt eine große Rolle in dieser unwiderstehlichen Geschichte. Absolute Leseempfehlung! Erschienen im Eisele Verlag- übersetzt von Bettina Abarbanell.

https://eisele-verlag.de/books/die-optimisten/

Mai:

Eine Lektüre, die Kraft kostet und einiges von seiner Leserschaft abverlangt: „Je tiefer das Wasser“ von Katya Apekina- übersetzt von Brigitte Jakobeit, erschienen im Suhrkamp Verlag. Dieser Debütroman umspannt viele Jahrzehnte und ist angesiedelt in New Orleans und im Künstlermilieu von New York. Die Geschichte erzählt von toxischen Beziehungen und allen Formen von Abhängigkeiten. Marianne versucht sich umzubringen- ihre Töchter Mae und Edie leben danach bei ihrem Vater Dennis Lomack, einem weltberühmten Schriftsteller, zu dem sie vorher nie Kontakt hatten. Dies führt zu Ereignissen, die schrecklicher und verstörender nicht sein könnten. Jedes Detail mehr würde zu viel verraten. Tief, ganz tief lotet Apekina die versehrten Psychen ihrer Protagonisten aus – und erzählt von psychischem und physischem Missbrauch. Und wie dieser Missbrauch ein Menschenleben zerstören kann. Und das schmerzt. Sehr. Kongenial die Erzählweise – zersplittert wie das kranke Familiengefüge: die Geschichte wird hauptsächlich aus Sicht der beiden Schwestern erzählt – jedoch immer wieder unterbrochen von anderen Figuren, Meinungen, Briefen, Notizen und Interviews (und das auf verschiedenen Zeitebenen), um so ein kaleidoskopartiges Gesamtbild der gesamten Vorgänge zu entwerfen. Dies ist nicht neu, aber genial umgesetzt. Eine Geschichte über Kunst, Passion, Begierde, (kaputte) Familienbande, Wahn, die mich in ihren Bann zog – und mir auch so schnell nicht aus dem Kopf gehen wird. An zwei Abenden inhaliert- großartige Literatur.

https://www.suhrkamp.de/katya-apekina/je-tiefer-das-wasser_1582.html

Juni:

„Dennoch wird ihn der Schmerz mit voller Wucht treffen, das ahnt sie, so wie sie ihn kennt. Aber darüber soll er sich heute noch keine Gedanken machen, jeder Kummer kommt früh genug.“ „Wir holen alles nach“ von Martina Borger hat wohl den großartigsten Titel dieser „Frühjahrscoronasaison“. Aber nicht nur der Titel ist toll – das Buch habe an einem Nachmittag in einem Rutsch inhaliert. Unaufgeregt, zart, präzise und leise erzählt es von zwei sehr unterschiedlichen Frauen, die versuchen ihr Leben zu meistern. Verbunden sind die durch Elvis – er ist der Sohn von Sina und gleichzeitig der Nachhilfeschüler von Ellen. Beide hatten/haben es nicht immer leicht im Leben und kämpfen für ihr kleines Stück vom Glück. Als in der Mitte der Geschichte klar wird, dass der kleine Elvis ein dunkles Geheimnis hat, entwickelt sich das Buch zum absoluten Pageturner, den man nicht mehr aus der Hand legen mag (und kann). Borger zeigt uns das wahre Leben, greift Themen wie Patchworkfamilien, Alkoholkolismus, Altersarmut, Einsamkeit und Verantwortung auf und verwebt all dies klug in einem Plot, der den Leser*innen viel über das moderne Alltagsleben und zwischenmenschliche Beziehungen/soziales Miteinander erzählt. Ein sehr, sehr feines Buch. Und für alle Hundefreunde: Sehr viel #dogcontent ?. Absolute Empfehlung, erschienen im Diogenes Verlag.

https://www.diogenes.ch/leser/titel/martina-borger/wir-holen-alles-nach-9783257071306.html

Viel Spaß beim Lesen und Entdecken. Unterstützen Sie beim Kauf bitte Ihren lokalen Buchhandel. #buylocal

Florian Valerius

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