Liebesflüstern im Märchenwald: Debussys „Pelléas et Mélisande“ am Theater Trier

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Blick in den Brunnen: Janja Vuletic als Mélisande und André Baleiro als Pelléas. Foto: Martin Kaufhold

TRIER. Am gestrigen Samstagabend feierte Claude Debussys einzige Oper „Pelléas et Mélisande“ am Theater Trier Premiere. Der scheidende Operndirektor Jean-Claude Berutti macht mit dieser durchdachten und ansprechenden Inszenierung, die die Sinnpotenziale dieses faszinierenden Märchens für Erwachsene zu heben weiß, dem Trierer Opernpublikum ein wertvolles und wunderschönes Abschiedsgeschenk. Sopranistin Janja Vuletic und Neuzugang André Baleiro harmonieren als tragisches Liebespaar perfekt in den Titelrollen, während das Philharmonische Orchester der Stadt Trier klangliche Glanzlichter von lyrischer Poesie setzt.

Von Alexander Scheidweiler

Die diesjährige Trierer Opernsaison, die mit Strawinsky so fulminant begonnen hatte (lokalo berichtete), geht mit Debussy nicht minder fulminant zu Ende. In seiner letzten Inszenierung als Trierer Operndirektor be- und verzaubert Jean-Claude Berutti das Publikum noch einmal mit einem bildmächtigen Märchen für Erwachsene. Die Dreiecksgeschichte von „Pelléas et Mélisande“, in der Prinz Golaud, bei der Jagd im (Märchen-)Wald auf Abwege geraten, das elementargeisterhafte, elfenartige Naturgeschöpf Mélisande findet und selbstverständlich auch ehelicht, bevor diese sich, auf dem düsteren Schloss der angeschlagenen Dynastie des Prinzen todunglücklich, in Golauds träumerischen, jüngeren Halbbruder Pelléas verliebt, was Golaud schließlich veranlasst, Pelléas in einem Eifersuchtsanfall zu töten, wobei nebenbei die schwangere Mélisande so in Mitleidenschaft gezogen wird, daß sie alsbald auf dem Wochenbett den Odem aushaucht, ist, kurz gefasst, recht simpel: Mann heiratet Frau. Frau verliebt sich in Schwager. Mann tötet Schwager. Frau stirbt als Kollateralschaden des Eifersuchtsmordes. So einfach.

Golaud (Stephan Loges) findet Mélisande (Janja Vuletic) im Wald. Foto: Martin Kaufhold

Doch da Debussy seine einzige, 1902 uraufgeführte Oper „Pelléas et Mélisande“ über die Librettofassung des bilderreichen, gleichnamigen Dramas des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck komponierte, spielt sich das Ganze eben in der phantastischen Atmosphäre des unerlöst-geheinisumwitterten Schlosses Allemonde ab, das sich freilich in einem düsteren, selten bis nie von der Sonne durchdrungenen Wald befindet, und zwar in einer unbestimmten, mittelalterlich anmutendenen Vorzeit in einem nicht lokalisierbaren Land am Meer. Auf diesem pseudo-arthurischen, quasi-wangerianischen, tristanisch-parzifalesken und hoch- bis höchstsymboli(sti)schen Schloss im mythenschwangeren Düsterwald, wo der namenlose König titurelgleich abseits der Bühne dahinsiecht, wohl zwischendurch sich auch ein weing erholt, schwingt einstweilen des Königs Unpässlichkeit wegen der greise, weise, prophetische Großvater-König Arkel das Szepter, soweit seine schwindenden Kräfte ein Schwingen desselben noch zulassen, und hofft auf eine bessere Zukunft.

Doch die Handlung von „Pelléas et Mélisande“ soll gar nicht ridikülisiert werden: Sich mit einem großen Werk auseinanderzusetzen, ja, es schätzen und genießen zu lernen, bedeutet auch, sich auf den Geist der Zeit ein Stück weit einzulassen. Und der war um die vorletzte Jahrhundertwende gerade dabei, des modischen Realismus und Naturalismus (bzw. in der Operntradition des Verismus) doch so langsam überdrüssig zu werden, unbeschadet des Umstandes, dass Puccini ihn noch ein Weilchen weiterentwickelte. Irgendwann ist’s dann halt auch mal gut mit bäurischen Messerstechereien in Sizilien à la „Cavalleria rusticana“ oder Kastagnettengeklapper in der Zigarettenfabrik. Die Wirklichkeit ist ja wahrlich schon ganz von alleine prosaisch genug – braucht’s das dann auch noch in der Kunst? Und so suchte das Fin-se-sièlce künsteübergreifend in Mythos und Symbol über den prosaischen Alltag hinausreichende Wahrheiten, welche Suche freilich im Grenzfalle jenseits der Zivilisationsgrenze, so wie die jagdliche Aventiure Golauds zu Beginn, auch die Gefahr bergen konnte, sich auf Holzwegen im Wald der Seelenlandschaften zu verirren und so im Labyrinth des Eskapismus zu verheddern.

Foto: Martin Kaufhold

Doch das muss nicht sein, wie „Pelléas et Mélisande“ bei näherer Betrachtung zeigt: Es ist bedeutsam und gibt Stoff zu vielfältiger Betrachtung, wie hier Menschen zueinander finden wollen und es doch nicht vermögen, wie die Grenze und der Konflikt zwischen Natur und Kultur mitten durch die Figur der weiblichen Protagonistin verläuft, wie der junge Prinz Pelléas zögerlich tastend an der Schwelle zur Aventiure seines Lebens steht, wie der ältere Halbbruder, Golaud, bereits mit ahnungsvoller Beklommenheit, die in rasende Wut umschlägt, zu spüren beginnt, seinen Zenit überschritten zu haben, wie der greise Arkel durch die Gegenwart der naturhaften Schwieger-Enkelin Mélisande Hoffnung schöpft, es könne eine Zukunft für die bröckelnde Kultur-Welt eines Königreichs im Niedergang geben. In all diesen Aspekten der eher assoziativ-metaphorischen denn folgerichtig-stringenten Handlung und der hochgradig stilisierten Figurenpsychologie liegen tatsächlich tiefe menschliche Wahrheiten und geradezu archetypisch-schicksalhafte Grundsituationen. Fast möchte man den Heideggerismus der Geworfenheit herbeizitieren.

Kurz: Es steckt wirklich ganz, ganz viel Power in diesem Werk und seinen bedeutungsschwangeren Bilder-Welten. Und Beruttis Inszenierung, die am gestrigen Abend im Großen Haus des Theaters Trier Premiere feierte – beinahe möchte man von einen Abschiedsgeschenk des scheidenden Operndirektors sprechen – vermag es, diese Potenziale zu heben, sie anschaulich, fasslich und eingängig zu machen.

Ein Drink unter Männern. Foto: Martin Kaufhold

So wird das Schloss Allemonde durch übergroße, beinahe erdrückende, mit dunklem Holz vertäfelte Wände dargestellt, die den Spiel-Raum eingrenzen. Die vielfachen düsteren Andeutungen des Textes auf die schwere Krankheit des Königs, auf die schlimme Hungersnot, die die Untertanen der Königsfamilie dahinrafft, auf die Feindschaft mit benachbarten Reichen, die durch eine Konvenienzehe Glodauds, in Trier gesungen von Stephan Loges, mit der Prinzessin Ursule hätte beigelegt werden können – hier ist all das bühnenbildlich anschaubar geworden, denn das Missverhältnis der Proportionen des Bauwerks zu seinen Bewohnern zeigt: Es hausen Zwerge in den Hallen von Riesen. Die Dekadenz ist weit vorangeschritten.

Weit, aber vielleicht nicht unaufhaltsam: Durch die Vorhänge an den großen Wandöffnungen linker Hand dringt immer wieder Licht in die düsteren Hallen, die Lichtmetaphorik aufnehmendend, die mit der Protagonistin, ihrem tragischen Ende zum Trotz, verknüpft ist: „Oh! Il fait clair!“/„Oh! Es ist hell!“, ruft Golauds Sohn Yniold (Einat Aronstein in einer Hosenrolle) aus, als dieser ihn zum Fenster Mélisandes (Janja Vuletic) in der vierten Szene des dritten Aktes emporhebt, um ihr nachzuspionieren. Und weiter über Pelléas (André Baleiro) und Mélisande, die sich gemeinsam in der Kammer aufhalten: „Ils regardent la lumière.“/„Sie schauen das Licht an.“ Auch in den Kostümen spiegelt sich diese Hoffnung, deren Trägerin Mélisande ist, jedenfalls anfänglich: Im Wald mit einem unschuldsweißen Umhang bekleidet, trägt sie zu Beginn auf Schloss Allemonde ein sommergelbes Kleid, bevor sich, mit zunehmender Verdüsterung der Handlung, auch ihre Kleidung immer dunkler färbt. Die Kostüme der Mitglieder der Königsfamilie sowie ihrer Dienstmädchen passen dabei in die Entstehungszeit der Oper und verströmen einen leichten Downton Abbey-Charme, namentlich das viktorianisch anmutende Kleid von Königin Geneviève (Silvie Offenbeck), der Mutter von Golaud und Pelléas, oder der gravitätische Biedermeier-Look von Arkel (Karsten Schröter) mit Plastron und Vatermörder-Kragen. Allein die Titelfiguren sind moderner gekleidet, weisen so schon rein optisch in die Zukunft, während Berutti Golaud Attribute der Fremd- und Selbstzerstörung zuordnet – wenn er nicht mit Schrotflinte oder Messer hantiert, hat er einen Whiskey-Tumbler in der Hand und trinkt unmäßig Alkohol.

Golaud mit seinem Sohn aus erster Ehe, Yniold (Einat Aronstein). Foto: Martin Kaufhold

Während der eine, Berutti, geht, kommt der andere: An Neuzugang André Baleiro wird das Trierer Opernpublikum noch sehr viel Freude haben. Der farbenreiche Bariton des Portugiesen erklingt mit schönem Timbre und viriler Kraft. In der Liebes- und für seine Figur zugleich Todeszene am Ende des vierten Aktes läuft er zu voller Größe auf und zeigt, was er kann: Von einem zarten, sinierend-tastenden „C’est le dernier soir… le dernier soir“ („Das ist der letzte Abend… der letzte Abend“), als er der Geliebten harrt, bis zur euphorischen, klimatischen Liebeserklärung des „Je l’ai trouvée“ („Ich habe sie gefunden“) reicht die Spannbreite. Und wie Baleiros Bariton in diese Liebeserklärung mit im besten Sinne männlicher Kraft und Leidenschaft geradezu explodiert, das ist so authentisch, dass man sich wünschen würde, einen Menschen mit solcher Hingabe zu lieben, ihn so zu lieben, dass dass man in solchen Jubel ausbräche! Wenn er singt: „Je ne crois pas qu’il y ait sur la terre une femme plus belle!“ („Ich glaube nicht, dass es auf Erden eine schönere Frau gibt!“), glaubt man es ihm unbesehen.

Ganz stark präsentiert sich auch Janja Vuletic als Mélisande, was in dieser Oper, die auf arienartige Glanzstücke weitestgehenden Verzicht leistet, nicht ganz einfach ist. Doch Vuletic versteht es, die Abschattungen der Seelenqualen des in der düster-dekadenten Kulturwelt fremden Naturwesens Mélisande gefühlvoll und empatisch mit feinem Pianissimo zu Gehör zu bringen. Begeisternd, dass und wie sie dabei zugleich fähig ist, das heitere Element der Szene am „Brunnen der Blinden“ („la fontaine des aveugles“) zu Beginn des zweiten Aktes schauspielerisch und stimmlich herauszuarbeiten: Wenn sie fröhlich und unbeschwert mit ihrem Ehering über dem Wasser spielt, ihn in die Luft wirft und Pelléas’ Warnung mit einem fröhlichen, kecken, mädchenhaften „Mes mains ne tremlent pas“ („Meine Hände zittern nicht“) hingewischt, scheinen schlaglichtartig die Unschuld und das Lebensvolle auf, die den Kern der Mélisande-Figur ausmachen.

Foto: Martin Kaufhold

Zudem harmonieren Vuletic und Baleiro hervorragend. Die Chemie – oder bei dieser Oper müsste es wohl heißen: die Magie – zwischen den beiden Künstlern stimmt einfach. Die verspielte Erotik der Turmszene zu Beginn des dritten Aktes knistert geradezu, wenn Vuletic das Haar herablässt und Baleiro sich wie auf einer zum Leben erwachten Zeichnung von Aubrey Beardsley tändelnd darin verliert – wenngleich es sich in der Trierer Inszenierung eher um eine Kaminszene handelt, indem Vuletic sich auf dem breiten Simms räkelt, während Baleiro, am Boden sitzend, mit ihrem Haar spielt.

Und welch eine Musik hat Debussy dazu komponiert! Ganz allgemein und in den blauen Himmel musikdramatischer Verzückung hineingesprochen, ist es ja sowieso schwierig, die Musik von Debussy nicht zu mögen, die immer ein wenig so klingt, als habe ein Zauberwesen (eine Mélisande? eine Melusine?) seinen Feenstaub über eine Art nouveau-Preziose gestreut und diese so in Töne verwandelt. Im Falle von „Pelléas et Mélisande“ handelt es sich, wie gesagt, um eine durchkomponierte Oper ohne die große Geste von Arie und Kantilene, deren Partitur gleichwohl den Text und seine Abgründigkeiten eben deshalb nur umso feinsinniger auszuleuchten und zu kommentieren weiß. Wie ein seidiger Glanz, wie ein samtener Schmelz legt Debussys Musik sich über Maeterlincks Worte und hebt sie in höhere, harmonische und semiotische Sphären empor.

Pelléas mit Arkel (Karsten Schröter, links) und Geneviève (Silvie Offenbeck). Foto: Martin Kaufhold

Es bedarf in jedem Falle hoher orchestraler Präzision und tiefer hermeneutischer Einfühlsamkeit seitens des Dirigenten, dem nachzuspüren und es zur Geltung zu bringen – und die (also die Präzision und die Einfühlsamkeit) legen das Philharmonische Orchester der Stadt Trier und sein Leiter, Generalmusikdirektor Jochem Hochstenbach, auch an den Tag. Berückend, wie sie das Kontemplative dieser Partitur hervorlocken – das Ohr will sich verlieren in diesem meditativen stream of (sub-)consciousness, der ganz Klang geworden ist, so wie Pelléas sich im Haar von Mélisande verliert. Gerade in der Meereszene am Ende des ersten Aktes, dieser fast schon sakralen Natur-Epiphanie, dieser Apotheose des sehnsuchtsvollen Fernwehs mit Leuchtturm und im Nebel entschwindenden Schiff, setzt das Orchester unter Hochstembach klangliche Glanzlichter von lyrischer Poesie und knüpft so an die vorzügliche Darbietung der Interludien in „Peter Grimes“ vor wenigen Wochen an (lokalo berichtete).

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass Schröter als Arkel im wahrsten Sinne des Wortes eine gute und stattliche Figur macht und so die großväterliche, bisweilen aber auch etwas hilflos wirkende Autorität dieser Figur mit gravitätischem Auftreten und grundsolidem Bass hervorragend verkörpert, während Einat Aronstein in der Hosenrolle auf charmante Weise für mache burleske Auflockerung sorgt.

Schade nur, dass an diesem Premierenabend – so wie bei „Peter Grimes“ – doch einige Plätze leer blieben. „Pelléas et Mélisande“, dieses faszinierende Märchen für Erwachsene, in dieser durchdachten und ansprechenden Abschieds-Inszenierung Beruttis mit einer so großartigen stimmlichen und schauspielerischen Leistung der Künstler in den Titelrollen, getragen von einem starken Philharmonischen Orchester der Stadt Trier, darf man sich nicht entgehen lassen! Und wen das noch nicht überzeugt, dem sei ein Satz des Literaturnobelpreisträgers Romain Rolland mitgegeben, den das äußerst informative Programmheft zitiert und der den Bildungswert der Oper deutlich macht: „Ausländer, die Frankreich kennenlernen möchten und den Wunsch haben, in sein Geistesleben einzudringen, werden ‚Pelléas et Mélisande‘ studieren müssen.“

weitere Termine: 2.6., 13.6., 24.6. und 5.7., jeweils 19.30 Uhr

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