Wahlkampf mit gezücktem Messer: „Furor“ feiert am Theater Trier Premiere

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Wutbürger Jerome (Raphael Christoph Grosch) bedroht OB-Kandidat Heiko Braubach (Michael Hiller) mit dem Messer. Foto: Marco Piecuch

TRIER. Am gestrigen Mittwochabend erlebte das Schauspiel „Furor“ am Theater Trier seine Premiere. Das Stück von Lutz Hübner und Sarah Nemitz packt im Kontext eines Kommunalwahlkampfs heiße Eisen der Gegenwart wie gesellschaftliche Polarisierung, politische Radikalisierung, Fake News und die Macht der sozialen Medien an. Im Theatersaal der Europäischen Kunstakademie sah das Premierenpublikum eine starke Leistung der drei beteiligten Schauspieler Michael Hiller, Raphael Christoph Grosch und Barbara Ullmann.

Von Alexander Scheidweiler

In einem lichtdurchfluteten Foyer mit Glasfassade steht ein Aufsteller mit einem Wahlplakat: Ein Herr Mitte fünfzig in weißem Hemd und dunklem Sakko blickt – die Arme vor der Brust verschränkt und die linke Schulter dynamisch etwas nach vorne gewendet – dem Betrachter entschlossenen Blicks unmittelbar ins Auge. „Heiko Braubach. Ihr OB. Persönlich. Moralisch. Direkt.“, steht auf dem Plakat zu lesen.

Heiko Braubach (Michael Hiller) will Oberbürgermeister werden. Foto: Alexander Scheidweiler

Doch das Foyer gehört zu keiner Parteizentrale und die Trierer OB-Wahl ist ja nun schon einige Monate vorbei. Das Foyer ist dasjenige der Europäischen Kunstakademie Trier und der Mann auf dem Plakat heißt in Wirklichkeit Michael Hiller, Ensemblemitglied des Theaters Trier – er spielt eine von drei Rollen in dem so treffend Stück „Furor“ betitelten Stück des Schauspieler- und Autorenehepaars Lutz Hübner und Sarah Nemitz, das am gestrigen Mittwochabend im Theatersaal der Kunstakademie in einer Inszenierung von Paul Hess seine Trierer Premiere erlebte.

Bereits im vergangenen April hatte Intendant Manfred Langner bei der Vorstellung des Saisonprogramms des Theaters Trier seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass das Theater „am Puls der Zeit“ sein müsse. „Das Schauspiel bietet immer die Gelegenheit, sehr aktuell zu sein“, sagte Langner damals (lokalo berichtete). Und „Furor“, ein Stück, das in einer Weise, die wirklich unter die Haut geht, Themen wie gesellschaftliche Polarisierung, politische Radikalisierung, Fake News und die Macht der sozialen Medien aufgreift und problematisiert, löst diesen Anspruch zweifellos ein und knüpft so u.a. an den Erfolg des politischen Zeitstücks „Fracking for Future“ über das zunehmend heißt diskutierte Thema der Schiefergasgewinnung aus der letzten Spielzeit an (lokalo berichtete).

Ein minimalistisches Holzrondell mit rotem Stoffboden fungiert in der EKA als Bühne und symbolisiert die Wohnung von Nele Siebold, gespielt von Barbara Ullmann, darüber ein Leuchter, der mit silbrig glänzendem Stoff bespannt ist und im Holzrondell ein Sitzkissen in Handform als einzige, bloß angedeutete Möblierung. „Schön haben Sie’s hier“, sagt OB-Kandidat Braubach zu Siebold, doch das Gespräch will anfangs des rund 80-minütigen Theaterabends nicht so recht in Gang kommen.

Zweieinhalb Wochen sind vergangen, seit der Karrierepolitiker mit dem Hintergrund in der Arbeiterschaft – wiederholt betont er, ausgebildeter Metallfacharbeiter zu sein, früher Pakete ausgefahren und das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg erworben zu haben – Siebolds drogenabhängigen Sohn Enno angefahren und schwer verletzt hat. Dem Jugendlichen musste ein Bein amputiert werden. Seine Zukunft scheint endgültig zerstört. Er liegt noch im Krankenhaus. Vielleicht wird er den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen. Die polizeiliche Untersuchung indes ergab, dass Braubach keine Schuld trifft. Die Presse lobte ihn sogar, durch Erste Hilfe das Lebens Ennos gerettet zu haben: „Politiker rettet Junkie das Leben“, lautete daher die Überschrift eines Artikels in der fiktionalen Zeitung „FZ“.

Der Erpresser präsentiert seine Forderungen. Foto: Marco Piecuch

Braubach steckt im Wahlkampf und steht daher unter Druck. Sein Team habe ihm abgeraten, Siebold überhaupt zu besuchen: „Als Person des öffentlichen Lebens kann man seine Entscheidungen nicht immer selbst fällen“, sagt er. Nun aber sei er gekommen, um seine Hilfe anzubieten. Doch der Schmerz der Mutter sitzt tief. Sie hadert mit den Schicksal ihres Sohnes, gibt Braubach die Schuld an dem Artikel im „Decksblatt“ FZ, in dem ihr Sohn als „Kleinkrimineller“ tituliert wurde, ist wütend auf die Journalisten, die im Gespräch doch so freundlich waren, und dann so negativ über ihren Sohn geschrieben haben. Nele Siebold weiß nicht ein noch aus, wird laut und meint dann fast entschuldigend: „Das muss doch auch mal raus. Man erstickt sonst.“

Aber sie ist nicht verbittert. Als Braubach anbietet zu helfen, dass Enno eine gute Prothese bekommt, den Kontakt zu einem kompetenten Berufsberater herstellen will und mithelfen möchte, ein stabiles soziales Umfeld für den jungen Mann zu schaffen, scheint man sich einig und die Handlung einem den Umständen entsprechend guten Ende zuzustreben – oder doch zumindest einem halbwegs erträglichen.

Doch dann kommt Jerome. Der Neffe Siebsolds und Cousin Ennos, gespielt von Raphael Christoph Grosch, ist wohl das, was man einen zornigen jungen Mann nennen könnte. Er ist der eigentliche Träger des „Furor“, der Wut, die dem Stück den Titel gibt. Ohne Abschluss von der Schule abgegangen, fährt er Pakete aus – bei einem Subunternehmer und bei äußerst schlechter Bezahlung. Unzufrieden mit seiner Lebenssituation hat er sich im Internet radikalisiert, schimpft auf die Eliten und faselt vom „Kampf gegen das System“. Im Netz hat er Gerüchte gelesen, dass Braubach betrunken gewesen sein soll, als er seinen Cousin angefahren hat, eine Information, deren Bekanntwerden der Politiker sich insbesondere im Wahlkampf nicht leisten könne. Jerome wittert seine Chance, sich an einem Vertreter des verhassten Systems zu rächen und versucht, Braubach zu erpressen, ein verbrecherisches Vorgehen, dass er mit der Behauptung, er tue dies ja nur für einen Cousin und seine Tante, moralisch zu verbrämen bestrebt ist.

Die Atmosphäre ist angespannt. Foto: Marco Piecuch

Braubach seinerseits versucht zunächst, Jerome in jovialem, paternalisierendem Ton von der Aussichtslosigkeit seines Erpressungsversuches zu überzeugen – allein er geht nicht, sondern führt das Gespräch mit dem immer aggressiver werdenden jungen Mann fort, gibt sich viel Mühe, seine Vorwürfe zu entkräften. Ist vielleicht doch etwas dran an den Gerüchten? Hat Braubach doch etwas zu verbergen? Ist er sich seiner Sache doch nicht so sicher? Ist Jerome vielleicht doch einer vertuschten Wahrheit auf der Spur?

Die Situation eskaliert zusehends: Mit Tricks und Provokationen gelingt es Jerome nach und nach, den anfangs so angebrühten Politprofi immer mehr aus der Fassung zu bringen: „Sie tragen Schuld am Elend in diesem Land“, schleudert Jerome Braubach entgegen. „Dein großes ‚Wir‘ gibt’s nicht“, kontert der Jeromes Attitüde, Vorkämpfer des vermeintlich unterdrückten Volkes zu sein. Und: „Der Hass langweilt mich und die Dummheit.“ Auf Braubachs Frage, was denn seine Alternative zum bestehenden System sei, hat der „angry young man“ nichts Substantielles, sondern nur das im rechtsradikalen Milieu beliebte, manichäische Freund-Feind-Schema parat: „Was zählt, ist die Abschaffung des Feindes.“ Konsequenterweise bedroht er Braubach schließlich mit einem Messer. Beinahe kommt es zum Äußersten.

Es sind dabei gerade die Ambivalenzen und Ambiguitäten, die „Furor“ so interessant machen: Braubach erscheint zwar als im Ganzen respektabler Vertreter eines Systems, das nicht perfekt sein mag, aber immer noch besser als die möglichen Alternativen. Allein der Schatten des Zweifels bleibt: Sein Hilfsangebot an Nele Siebold besteht im Wesentlichen aus Unterstützung bei der Inanspruchnahme von Hilfen, die ihr und ihrem Sohn wohl ohnedies zuständen. Zudem will er das meiste über sein Büro abwickeln – echtes persönliches Engagement sieht anders aus. Und warum lässt er sich auf die fruchtlose Diskussion mit dem anmaßenden und hochaggressiven Jerome überhaupt ein, wendet so viel Energie aus, ihn von der Aussichtslosigkeit seines Unterfangens zu überzeugen, wenn doch an Jeromes Mutmaßungen und Verschwörungstheorien sowieso nichts dran ist und niemand sie glauben würde, wie Braubach versichert?

Braubach unter Druck. Foto: Marco Piecuch

Umgekehrt: Die Figur Jeromes ist in vielerlei Hinsicht abstoßend – hasserfüllt, leichtgläubig gegen alle Behauptungen, die sein ressentimentgeladenes Weltbild bestätigen, gewaltbereit, tendenziell rechtsextrem. Dennoch ist er keine Karikatur. Seine berufliche und soziale Situation ist prekär: Unbezahlte Überstunden mitgerechnet, verdient er nicht mal den Mindestlohn, eine Lebensperspektive hat er nicht. Man kann es zwar nicht gutheißen, aber doch verstehen, wenn er irgendwann seinen Zorn mit dem Satz herausschreit: „Wenn das dabei herauskommt, dann scheiß’ ich auf die Demokratie!“

„Furor“ ist einerseits thematisch sehr modern, andererseits strukturell fast schon klassizistisch – real time, eine Zeitebene, Handlungsort ausschließlich Nele Siebolds Wohnung, der Plot weitestgehend identisch mit der Konfrontation Jerome-Braubach, nur drei Figuren auf der Bühne. Gerade diese strukturelle Kompaktheit verdichtet das Erlebnis und lässt den Zuschauer sehr unmittelbar am Geschen teilhaben bzw. in dasselbe eintauchen. Man ist geradezu live dabei, wie sich im Siebold’schen Wohnzimmer eine Tragödie vor (sozial-)politischem Hintergrund abzuspielen droht.

Dabei gelingt es Hiller hervorragend, den begütigenden Sozialpädagogenton anzuschlagen, mit dem viele Politiker sich gerne als väterliche Kümmerer zu gerieren versuchen, der aber häufig das Gegenteil des Beabsichtigten bewirkt, indem Bürger sich und ihre Probleme nicht ernstgenommen glauben – so auch Jerome. Gleichzeitig ist Grosch, der bereits in „Fracking for Future“ als überdrehter Manager Chris Wiedemann eine ganz starke Leistung am Theater Trier gezeigt hatte, in der Rolle des sich mehr und mehr in Rage redenden Wutbürgers aus dem Prekariat äußerst überzeugend: Wenn er berserkerhaft seine Wut herausschreit, randalierend das Holzrondell auseinandernimmt, mit halboffenem Mund und starrem Blick Braubach das Messer entgegenstreckt, während die Muskeln an seinem Unterarm nervös zucken, dann bekommt man als Zuschauer fast schon selber ein bisschen Angst vor ihm. Dazwischen könnte man die berührende Darbietung Barbara Ullmanns als tief verletzter und verunsicherter Mutter, die das Beste für ihr Kind will und sich bemüht, mit einer äußerst schwierigen Lebenssituation, die sie im Grunde überfordert, fertigzuwerden, leicht übersehen – sollte man aber nicht. Auch das ist große Schauspielkunst.

„Furor“ erlebte nur ein gutes halbes Jahr vor der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen Rechtsextremisten seine Uraufführung am Schauspiel Frankfurt. Der Mord ereignete sich im Sommer 2019. Die Relevanz der Themen, die das Stück behandelt, ist seither wohl noch angestiegen – man denke an den Sturm auf das Kapitol, radikale Querdenker-Proteste, Reichsbürger. Die Trierer Inszenierung dieses bemerkenswerten Schauspiels von Hübner und Nemitz führt uns den Problemkomplex Fake News/Radikalisierung/politische Gewalt vor Augen, vermag zu sensibilisieren, vermeidet einfache Antworten und zeigt Graustufen, ohne den moralischen Kompass vermissen zu lassen. Am Ende ist klar: Ohne einen echten, respektvollen Dialog, ohne ein gesellschaftliches Gespräch ohne Hass und ohne Paternalisierung geht es nicht – sonst bleibt nur das gezückte Messer.

weitere Termine: 3.2., 28.2., 28.3. und 31.3., jeweils 19.30 Uhr

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