Phantastische Geisteswelten: „Der Zauberberg“ am Grand Théâtre in Luxemburg

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Phantasmorgien im Riesen-Thorax: Tim Breyvogel, Tilman Rose und Jeanne Werner in Sara Ostertags Inszenierung des "Zauberbergs" (v.l.n.r.). Foto: Alexi Pelekanos

LUXEMBURG. Das Ensemble des Landestheaters Niederösterreich spielte am gestrigen Abend am Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg eine Theaterfassung von Thomas Manns großem Bildungsroman „Der Zauberberg“. Regisseurin Sara Ostertag ist in der österreichisch-luxemburgischen Koproduktion die Umsetzung des komplexen Romanklassikers für die Bühne hervorragend gelungen.

Von Alexander Scheidweiler

Wie ein Käfig wölbt sich ein riesiger, stilisierter Thorax auf der Studiobühne des Grand Théâtre von Luxemburg, das Brustbein nach oben, die Rippen wie Spinnenbeine als Säulen eines gruseligen Pavillons, auf dessen Boden die Wirbelsäule des gewaltigen Brustkorbs als hohle Röhre liegt. Beeindruckend, wenn auch etwas beklemmend, wirkt Nanna Neudecks Bühnenbild zur Theaterfassung von Thomas Manns „Zauberberg“, die das Ensemble des Niederösterreichischen Landestheaters im Rahmen einer Koproduktion mit den Théâtres de la Ville de Luxembourg am gestrigen Abend aufführte, eine der Inszenierung der mehrfach ausgezeichneten Wiener Regisseurin Sara Ostertag.

Es erinnert ein wenig an ein barockes Memento mori oder gar an die dunklen Sci-Fi-Visionen des Alien-Universums, dieses skelettartige Bühnenbild. Was ja nicht unpassend ist: Das morbide Szenario einer moribunden Belle Epoque-Gesellschaft – ästhetisch überfeinert und psychologisch-introspektiv hypersensibel, aber physisch lendenlahm und lebensuntauglich geworden – die sich, im Gedanken-Laboratorium eines feinen Davoser Sanatoriums dem bürgerlichen Weltgetriebe „der da unten“ entrückt, einem intellektuellen Glasperlenspiel hingibt, in dessen Rahmen die Facetten der eigenen Innerlichkeit in Facetten europäischer Kulturgeschichte gebrochen und gespiegelt werden und diese wieder zurück in jene – dieses Szenario des Mann’schen Opus Magnum hat schließlich ohnedies den dunklen Charme eines spätmittelalterlichen Danse macabre, in der literarischen Fiktion des Bildungs-, Zeit- und Gesprächsromans an die Schwelle der Epochengrenze des Ersten Weltkrieges, in die Jahre 1907 bis 1914, verlegt.

Orgiastische Feiern auf dem Zauberberg: Michael Scherff, Tim Breyvogel und Lara Laufenberg (v.l.n.r.). Foto: Alexi Pelekanos

Ein solch episches Riesenwerk in eine Bühnenfassung zu übersetzen, die dann noch handhabbar ist und spielbar bleibt, ist freilich kein ganz leichtes Unterfangen – doch Ostertag ist es geglückt. Sehr zurecht lobten die großen Zeitungen der Alpenrepublik die St. Pöltener Uraufführung im letzten Herbst, allen voran der renommierte Wiener „Standard“. Natürlich: Das „Eindampfen“ der epischen Breite auf die zeitlichen Dimensionen eines Theaterabends setzt Schwerpunktsetzungen voraus, die notwendig mit Verlusten einhergehen. Doch hier hat Ostertag geschickt agiert, so dass die äußerst vielgestaltige Themenpalette der Zauberberg-Konversationen erhalten bleibt, auch wenn vieles, was in Manns Roman geradezu ad nauseam erörtert wird, in den Dialogen der Schauspieler nur andiskutiert werden kann.

Ein Hauptaspekt ist dabei der psychologische Weg nach innen, den der Protagonist nach und nach beschreitet, schon dadurch angedeutet, dass das Spiel sich im Inneren des menschlichen Brustkorbes, der leiblichen Herzkammer gewissermaßen, abspielt. Wenn der angehende, hanseatische Schiffbauingenieur Hans Castrop, überzeugend gespielt von Tilman Rose, der als einziger Mitwirkender nur eine Figur verkörpert, aus der Wirbelsäulen-Röhre krabbelt (oder ist es doch ein Geburtskanal?), um seinen Vetter, den preußischen Leutnant Joachim Ziemßen (Jeanne Werner), im Schweizerischen Lungensanatorium Berghof zu besuchen, macht er sogleich die Bekanntschaft von Dr. Krokowski (Lara Laufenberg), dem nebenbei in der Psychoanalyse dilettierenden Adlatus von Anstaltsleiter Hofrat Behrens (Michael Scherff).

Kein Wunder also, dass alsbald von der „erlösenden Wirkung der Psychoanalyse“ die Rede ist und Castorp, dem morbiden Charme der kränkelnden, hermetischen Gesellschaft des Zauberbergs erlegen, an seinen Vetter die rhetorische Frage richtet: „Hinter den Kulissen geht also einiges vor sich?“ Castorps Hingezogenheit zu der mysteriösen Russin Clawdia Chauchat, deren sprechender Name bereits erotische Abgründigkeiten andeutet, die Ambivalenz seines Sexus in homoerotischen Rückblenden zu seiner juvenilen Schwärmerei für den Schulkameraden Přibislav Hippe, an den Clawdia ihn erinnert – diese Aspekte spielen eine zentrale Rolle und werfen ein Schlaglicht auf die geistigen Manien des Fin de sciècle, die bis heute nachwirken. Die minutiöse Beobachtung und Ausleuchtung der Ab- und Verzweigungen, Abschattungen und Aberrationen der eigenen Lüste und des eigenen Trieblebens sind ersatzreligiöser Weg nach innen geworden – das freudianisch gefärbte In-sich-Hineinhorchen und Nachhorchen der eigenen Befindlichkeit, das ständige Hinterfragen und Problematisieren der eigenen Identität ersetzt das überlieferte, mystische Horchen auf die Stimme, die aus der Transzendenz spricht, jenes Horchen, das die europäische Kulturgeschichte (mit)prägte, als das Christentum noch die ausschlaggebende geistige Macht darstellte. Dass Männerrollen von Frauen gespielt werden und umgekehrt, unterstreicht die Identitätsthematik.

Einsam im Schnee. Tilman Rose mit den Musikerinnen Clara Luzia und Catharina Priemer-Humpel im Hintergrund. Foto: Alexi Pelekanos

Ein wenig schade ist, dass zwar Settembrini, als Mentor Castorps mit väterlicher Autorität, intellektueller Schärfe und einem gewissen, kühlen Charisma ausgestattet von Bettina Kerl, weidlich über Vernunft und Aufklärung, Humanismus und praktische Tätigkeit, das Wort als Träger des Geistes und die Musik als fragwürdige, weil dem Verschwommen-Emotionalen verhaftete Kunst dozieren kann, aber die doppelbödig-gefährlichen Repliken seines krypto-faschistischen Gegenspielers Leo Naphtha ein wenig kurz kommen. Jedoch wie gesagt: Man kann einen so gewaltigen Roman nicht für die Bühne adaptieren, ohne manches zu opfern.

Tim Breyvogel als Naphtha zuzusehen und zuzuhören ist übrigens ein besonderes Vergnügen: Allein wie er mit gestisch-mimisch-habituellen Unmutsäußerungen die fortschrittsoptimistischen Rationalitätssuaden Settembrinis konterkariert, ist phantastisch! Gleichfalls herausragend ist die Performance der Luxemburgerin Jeanne Werner: Sowohl als steifer Leutnant Ziemßen, der sich die Lunge aus dem Leib hustet und dennoch unbedingt vor lauter Pflichtbewusstsein baldmöglichst zum Militär will, wie auch als geheimnisvoll-verführerische Madame Chauchat – gleichwohl immer noch mit Ziemßen-Schnauz – vermag Werner zu glänzen. Überhaupt macht das ganze Ensemble seine Sache exzellent: Sei es der teils naive, teils interessiert-bemühte Hans Castorp Tilman Roses, sei es der zupackend-hemdsärmelige Hofrat Behrens Scherffs, sei es der in seiner gebückten Haltung dennoch dämonisch-bedrohlich wirkende Krokowski Laufenbergs.

Die Musik tut ein Übriges: Im Bühnenhintergrund musizieren Clara Luzia und Schlagzeugerin Catharina Priemer-Humpel. Ihre bisweilen psychedelischen Sphärenklänge verdichten die phantasmorgische Atmosphäre der Inszenierung ungemein, markieren auditiv die fundamentale Differenz der Zauberbergswelt und ihrer schwer greifbaren und dennoch unwiderstehlichen Sogwirkung gegenüber der nüchternen Bürgerlichkeit, der der Protagonist den Rücken gekehrt hat, als er sich der Berghofs-Gesellschaft anschloss.

Die österreichisch-luxemburgische Zauberberg-Koproduktion bietet somit ein im doppelten Sinne phantastisches Theatererlebnis – die hervorragend geglückte Umsetzung einer maßgeblichen Wegmarke der modernen Romanliteratur für das Schauspiel und die fast zweistündige Entführung des Zuschauers in die phantastischen Geisteswelten und Seelenlagen der untergehenden Welt Europas vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Interessierte können den Zauberberg kurzentschlossen noch heute und am morgigen Freitag am Grand Téâtre de la Ville de Luxembourg sehen.

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