TRIER. In einem zugleich äußerst fundierten und unterhaltsamen Vortrag sprach die Oxforder Germanistin Prof. Dr. Henrike Lähnemann in der Theo-Talk-Reihe der Katholischen Erwachsenenbildung Trier zum Thema „Unerhörte Frauen. Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter“. Dabei führte sie anhand von hochkarätigen Handschriften aus dem 15. Jahrhundert in die hohe musikalische und liturgische Bildung sowie den sozialen Status der geistlichen Frauen aus dem Spätmittelalter ein.
Von Alexander Scheidweiler
Der Geist der britischen Eliteuniversität Oxford wehte am gestrigen Montagabend ein wenig durch das Kegel- und Bowlingcenter in Trier-Heiligkreuz, wo sich zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Theo-Talk-Vortrags- und Diskussionreihe der Katholischen Erwachsenenbildung Trier versammelt hatten, um ihm Rahmen einer hybriden Veranstaltung dem Vortrag der Oxforder Germanistin und Mittelalter-Expertin Prof. Dr. Henrike Lähnemann zuzuhören. Lähnemann, die per Zoom zugeschaltet war, sprach auf Basis ihres gleichnamigen Buches „Unerhörte Frauen. Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter“, das sie gemeinsam mit der Historikerin Prof. Dr. Eva Schlotheuber verfasst hat, über spätmittelalterliche Handschriften aus dem norddeutschen Raum und die geistlichen Frauen, die ihre Urheberinnen sind. Unterstützt wurde sie dabei von Dr. Andrew Dunning, Kurator der mittelalterlichen Handschriften, der den Teilnehmern einige Schätze aus der altehrwürdigen Bodleian Library der Universität Oxford präsentierte, anhand deren Lähnemann ihre Ausführungen verdeutlichte. Das hybride Format ermöglichte neben der Zuschaltung der Trierer Josefsschwestern auch die virtuelle Teilnahme weiterer Interessierter aus Lüneburg, Bayreuth und sogar aus der Schweiz. Lähnemann zeigte sich besonders erfreut, dass bei ihrem Trierer Gastspiel erstmalig Ordensfrauen teilnahmen.
Nach einer Begrüßung durch Katharina Zey-Wortmann, Leiterin der KEB Fachstelle Trier, und einem Abriss der beeindruckenden wissenschaftlichen Vita der Referentin durch Dr. Samuel Acloque, Bildungskoordinator der KEB Konz, stieg Lähnemann in ihren Vortrag ein. Ziel sei es, „die Nonnen so hör- und sichtbar zu machen wie möglich.“ Gerade zur Erreichung dieses Zweckes sei es „ein großes Privileg“, dass mehrere Handschriften aus norddeutschen Frauenklöstern sich in Oxford befinden. Grund ist, dass die damalige Äbtissin des niedersächsischen Zisterizienserinnenklosters Medingen im 18. Jahrhundert vermeintlich überflüssige kostbare Gegenstände veräußerte, unter denen glücklicherweise auch die heute in Oxford befindlichen Handschriften waren, so dass diese nicht dem Brand des Klosters zum Opfer fielen, der sich 20 Jahre später ereignete.
Zunächst widmete Lähnemann sich einer Handschrift aus dem Jahre 1472, die von mindestens zwei Nonnen für den Probst des Klosters Meding verfasst wurde. Bei der Handschrift handelt es sich gleichsam um ein „Regiebuch“ für den Probst, da dieser die Nonnen auf ihrer Empore zwar hören, aber nicht sehen konnte, so dass er wissen musste, wo seine liturgischen Einsätze waren und an welchen Stellen er aufhören und die Nonnen selbst zu Wort kommen lassen musste. Mit der Klosterreform, die in Meding 1479 eingeführt wurde, schrieben die Nonnen sich stärker in die Liturgie ein, was erklärt, dass die Handschrift stark bearbeitet wurde: So gab es zuvor nur einige wenige Stellen, an denen die Nonnen hörbar wurden, nach 1479 jedoch trugen sie immer mehr Gesänge für sich in die Handschrift ein, auch „für die Laien, die an Hochfesten in der Klosterkirche mit dabei sein konnten.“ So geht aus der Handschrift u.a. hervor, dass die Laien auf lateinische Gesänge der Nonnen volkssprachlich antworteten, so z.B. an Weihnachten mit dem bis heute bekannten Weihnachtslied „Gelobet seist du, Jesu Christ“ auf die lateinische Sequenz „Grates nunc omnes“ („Wir wollen nun alle danken“) der Nonnen.
Praktisch eingebunden wurden die Zuhörer mit einem Gesang zur Kerzenweihe an Mariä Lichtmess, der aus dem Lobgesang des Simeon, dem „Nunc dimittis“, besteht, auf dessen Verse mit „Lumen ad revelationem gentium, et gloriam plebis tuae Israel“ („Ein Licht zur Erleuchtung der Heiden, und Herrlichkeit für dein Volk Israel.“) zu antworten ist. „Bei der siebten Wiederholung können Sie’s bestimmt“, ermunterte Lähnemann die Anwesenden zum Mitsingen – und sie sollte recht behalten. Nach und nach fanden die Gäste des Theo-Talks sich unter der Anleitung der Mediävistin in den lateinischen Wechselgesang.
Als zweites Beispiel zog Lähnemann eine kleinere Handschrift aus Meding heran, die mehrere Nonnen für ihren eigenen Gebrauch verfasst haben und die im Habit mitgeführt und auf der Empore oder in der Zelle gelesen werden konnte. Enthält die Handschrift für den Probst die „offiziellen Regieanweisungen“ der Liturgie, so zeugt die zweite Handschrift von der persönlichen Andacht der Nonnen. So zeigen die kleineren Illuminationen der Handschrift zur Osternacht, dass die Nonnen sich vorstellten, dass in der Osternacht „alle Engelschöre mit einstimmen in den Jubel“. Eine Nonne fügte eine Anweisung an sich selbst hinzu: „Sing’ auch du auf dem Harfenspiel deiner Seele.“ Die Nonnen schrieben sich auch auf andere Weise in die Handschriften ein: So findet sich in der O-Initiale, mit der ein Gebet an Christus als den „gekreuzigten Liebhaber“ beginnt, ein kleines Selbstportrait einer Nonne, gewissermaßen ein spätmittelalterliches Selfie – „ein ganz besonderes Zeugnis für die enge Verbundenheit der Nonne mit ihrem Gebetbuch“, so Lähnemann.
Lähnemann erläuterte, dass die Nonnen intensiv im liturgischen Singen ausgebildet wurden, zu welchem Zweck sie zwischen sieben und zehn Jahre lang die Klosterschule besuchten. Dabei wurde die sog. „Guidonische Hand“ als „mnemotechischer Trick“ verwendet, bei dem Intervalle gelernt wurden, indem die Cantrix auf ihre verschiedenen Fingerglieder deutete, denen die Intervalle zugeordnet waren, ein Verfahren, das der Solmisation ähnelt.
Ein Liederbuch aus dem Kloster Wienhausen enthält neben geistlichen Gesängen auch ein weltliches Spottlied, das aus plattdeutschen und lateinischen Sprachelementen besteht, „einer für das Kloster typischen Mischsprache“, wie Lähnemann erklärte. Auch bei diesem Spottlied „Das Eselchen in der Mühle“ band die Wissenschaftlerin ihr Publikum erneut ein. Thema des Liedes ist der in klösterlichen Kontexten häufiger anzutreffende Spott der Nonnen über mangelhafte Lateinkenntnisse der Priester, die gewissermaßen beim Singen nur ein eselsgleiches „I-Ah“ herausbringen. Gesungen wurde das Lied möglicherweise im Rahmen eines Festes zum Flachsbrechen o. ä., das Lähnemann in ihrem Buch beschreibt und bei dem neben religiösen Liedern auch von den jüngeren Mitgliedern des Konvents Lieder auf die Äbtissin und den Probst improvisiert wurden. Die Moral des Liedes von dem Eselchen, das Priester werden will, ist, dass man das Lernen insbesondere des Lateinischen nicht aufschieben sollte, weil es nun einmal nicht ausreicht, einfach nur „I-Ah“ zu singen.
Im Anschluss an den Vortrag fand eine Fragerunde statt, in deren Rahmen Lähnemann u.a. darauf hinwies, dass das Abfassen und Illuminieren der Handschriften für die Nonnen – insbesondere in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, als der Buchdruck bereits zur Verfügung stand – nicht nur der Erstellung eines Textes diente, sondern v.a. als Andachtsübung zu verstehen ist. Nicht alle Handschriften zeigen die hohe Qualität der im Rahmen des Vortrages präsentierten, jedoch komme es eben aufgrund des Charakters der Andachtsübung auch nicht primär auf die künstlerische Qualität, sondern auf den Akt der Verehrung an, von dem die künstlerische Darstellung Zeugnis ablegt.
Die Liturgie, die in den Handschriften greifbar ist, hat sich „im Grunde durchgehalten“, sagte Lähnemann. „Ungefähr 80 Prozent der Liturgie ist weiterhin in Gebrauch.“
„Die Nonnen sahen sich auch als Vermittlerinnen und sahen in ihrer Bildung auch eine Art Verpflichtung“, so Lähnemann auf die Frage, inwieweit die Bildungszeugnisse auch außerhalb des Klosters bekannt waren. So entstand im Kloster Meding beispielsweise auch eine Handschrift für die Frau des Lüneburger Bürgermeisters, deren drei Schwestern alle Nonnen waren. Die Handschrift ist allerdings, anders als die klösterlichen, komplett volkssprachig. Auch zahllose Briefe der Benediktinerinnen aus Kloster Lünen aus dem 15. und 16. Jahrhundert bezeugen, dass die Nonnen sich als Vermittlerinnen sahen, etwa durch Übersetzungen oder Erläuterungen von Bibelstellen.
Die Kostbarkeit der bei den Handschriften verwendeten Materialien und die für die Abfassung und Gestaltung nötigen Kenntnisse weisen zudem auf den hohen sozialen Status der Nonnen hin, ebenso das Faktum, dass die Nonnen festlegten, wann der Probst zu singen hatte und wann nicht, erklärte Lähnemann.
Katharina Zey-Wortmann dankte abschließend der Refertin für ihren Vortrag. In gemütlicher Runde ließen die Besucher den Abend mit Gesprächen bei Essen und Getränken ausklingen.
Frau Prof. Dr. Lähnemann stellt den Vortrag auch über ihren YouTube-Kanal zur Verfügung. Ihr Buch „Unerhörte Frauen. Die Netzwerke der Nonnen im Mittelalter“ ist im Propyläen Verlag erschienen und kostet 26 Euro.