TRIER. 2006 wurde der Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko in London Opfer eines Giftmordes, den mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Wladimir Putin beauftragt hatte. Die Bilder des von der Vergiftung mit radioaktivem Polonium gezeichneten Litwinenko gingen um die Welt. Die Geschichte Litwinenkos und seiner mutigen Frau Marina erzählt das Stück „Extrem teures Gift“ der britischen Dramatikerin Lucy Prebble, das gestern Abend im Großen Haus des Theaters Trier seine Premiere erlebte. In Anwesenheit der aus London angereisten Marina Litwinenko sahen die Zuschauer einen packenden, dokumentarischen Polit-Thriller, der unter die Haut geht.
Von Alexander Scheidweiler
Am Ende wird es ungewöhnlich emotional, selbst für einen Premierenabend: Als Marina Litwinenko, Witwe des 2006 im Londoner Exil mit radioaktivem Polonium-210 ermordeten Ex-Geheimdienstlers und Kreml-Kritikers Alexander Litwinenko, auf die Bühne geholt wird, steigert sich der ohnedies bereits tosende Applaus im Großen Haus des Theaters Trier nochmals hörbar. Später, bei der Premierenfeier in der Lobby, dankt Intendant Manfred Langner Marina Litwinenko nochmals dafür, aus London eigens zur Premiere und deutschen Erstaufführung des Schauspiels „Extrem teures Gift“ der britischen Autorin Lucy Prebble nach Trier gereist zu sein, und erzählt, dass die Litwinenkos ihren letzten Urlaub vor der Vergiftung Alexanders in Trier verbracht haben.
Das packende, dokumentarische Polit-Drama mit Zug zu Farce und Satire, das die Geschichte des Giftmordes an Alexander Litwinenko erzählt und das gestern Abend in Langners Inszenierung seine Trierer Premiere feierte, geht unter die Haut, besonders am Ende, wenn Thomas Jansen in der Hauptrolle des Alexander „Sascha“ Litwinenko von seiner Frau, gespielt von Carolin Freund, Abschied nimmt, in den hinteren Teil der Bühne schreitet, die Perücke abnimmt und sich kahlköpfig in das bereitstehende Krankenbett legt, so dass die Bilder wieder wachgerufen werden, die damals, vor mittlerweile 17 Jahren um die Welt gingen: Der Dissident im Krankenbett, in kürzester Zeit ausgezehrt und gezeichnet von der radioaktiven Vergiftung, ein Bild tiefsten menschlichen Leidens. Der Mord an Alexander Litwinenko war der Auftakt zu einer ganzen Serie von teils erfolgreichen, teils nicht erfolgreichen Anschlägen auf Kreml-Kritiker bis hin zum Berliner Tiergartenmord und dem Mordanschlag auf Alexei Nawalny. Da die Spur immer mehr oder weniger offensichtlich zu Wladimir Putin führt, gewinnt der Fall vor dem Hintergrund des brutalen Angriffskrieges gegen die Ukraine neue Aktualität als mächtiges Symbol für die kaltschnäuzige Art und Weise, wie der Kremlchef über Leichen geht, wenn Menschen seine Pläne zu durchkreuzen versuchen.
Und auch in der Trierer Inszenierung geht Putin (Friederike Majerczyk) wortwörtlich über Leichen, auch wenn es zunächst nur eine Schnapsleiche ist. Der spätere Killer Andrei Lugowoi (Giovanni Rupp), der Litwinenko von Partys bei dem schillernden Oligarchen und Medienmogul Boris Beresowski (Michael Hiller) kennt, lässt, trunken von zu viel Wodka, eine wilde, nationalistisch-narzisstische Tirade vom Stapel über die Opfer, die Russland im Zweiten Weltkrieg erbracht hatte, und die dazu in keinem Verhältnis stehende Demütigung, die Russland nach dem Ende des Kalten Krieges durch den Westen zuteil geworden sei – eben jenes auch bei Putin-Freunden im Westen so beliebte wie schiefe Narrativ von der zu Unrecht gedemütigten russischen Nation, durchtränkt von dem ressentiment- und revanchismusgeladenen Gefühl, dass einem der rechtmäßige, der eigenen historischen Leistung und Größe entsprechende Platz auf der Weltbühne verweigert werde, das Narrativ, auf das Putin immer wieder setzt und auf das schon so viele Tyrannen gesetzt haben, um die Massen aufzustacheln. Und dann, als der völlig betrunkene Lugowoi endlich umfällt und ausgestreckt auf dem Bühnenboden liegt, betritt der 1998 frischgebackene Chef des KBG-Nachfolgedienstes FSB, Wladimir Putin, die Bühne, indem er hochsymbolisch über die (Schnaps)-Leiche geht.
Für den FSB-Oberstleutnant Litwinenko ist der Amtsantritt Putins eine Zäsur: Litwinenko, dessen bisheriges Spezialgebiet die Bekämpfung der organisierten Kriminalität war, muss mit ansehen, wie sein neuer Chef systematisch die Strukturen des Geheimdienstes mit den Strukturen der organisierten Kriminalität verschmilzt, um sich zu bereichern. Zu seiner Frau sagt er den abgründigen Satz: „Es gibt keine klare Grenze mehr zwischen Verbrechern und denjenigen, die die Verbrechen aufklären.“ Damit will Litwinenko sich nicht abfinden. Er geht über Beresowskis Fernsehsender an die Öffentlichkeit – und zahlt einen hohen Preis. Er wird verleumdet, auf offener Straße angegriffen, nachts aus der Wohnung geholt und verprügelt, bekommt kein Gehalt mehr. Im Jahr 2000 flieht er mit seiner Frau und seinem Sohn nach Großbritannien, erhält Asyl und lebt dort unter falschem Namen. Dort, in London, trifft er auch Beresowski wieder, der ebenfalls ins Exil musste und „ein kleines Moskau an der Themse“ in Mayfair aufgebaut hat. Er arbeitet als Berater, u.a. für Beresowski, und fährt fort, das Putin-Regime journalistisch zu attackieren. Das rächt sich mit langem, bis nach London reichendem Arm und auf furchtbare Weise, eben mit dem „extrem teueren Gift“ Polonium-210, in den Tee gemischt durch seinen vermeintlichen Freund Lugowoi.
„Extrem teueres Gift“ spielt auf verschiedenen Zeitebenen, von den 90er- bis in die 2010er-Jahre und ist v.a. auch eine bewegende und hochverdiente Hommage an Marina Litwinenko, an den Mut und die Beharrlichkeit, mit der sie nach dem Tod ihre Mannes jahrelang auf eine umfassende Untersuchung und Aufklärung des Mordes drang, obwohl die britische Regierung, u.a. die damalige Innen- und spätere Premierministerin Theresa May, die Sache um der Beziehungen zu Russland willen gerne auf sich hätte beruhen lassen. Gemeinsam mit Detective Inspector Hyatt von der Londoner Metropolitan Police, gespielt von Barbara Ullmann, springt Marina Litwinenko/Carolin Freund durch die Zeitebenen und nimmt den Zuschauer mit auf die Suche nach den Puzzleteilen, die sich nach und nach zum Gesamtbild des kaltblütigen staatlichen Auftragsmordes zusammenfügen.
Dass man in dem verwirrenden Netz aus Beziehungen, Lügen, Täuschungen und Intrigen sowie in der gewaltigen Figurenfülle – alle Schauspieler außer Jansen und Freund verkörpern im Laufe des zweieinhalbstündigen Theaterabends mehrere Rollen – nie den Überblick verliert, zeigt die Qualität der Inszenierung von Manfred Langner. Im überwiegend und dem Gegenstand völlig angemessen düsteren Bühnenraum fügen sich einfache Tische auf Rollen, ergänzt um einige Stühle, zu den Handlungsorten, sei es die Moskauer Wohnung der Litwinenkos, das Büro des Geheimdienstchefs Putin oder ein Restaurant in London. Einblendungen auf den vier großen, stilisierten Fenstern im Bühnenhintergrund sowie eine äußerst gelungene Lichtregie – zurecht lobte Langner bei der Feier im Foyer Elena Siberski ausdrücklich dafür – orientieren zusätzlich über Ort und Zeitpunkt des gerade dargestellten Geschehens.
Getragen wird das Stück selbstverständlich von Jansen und Freund in den Hauptrollen, die besonders in den intimeren Momenten, wenn die Litwinenkos als starkes Liebespaar vorgestellt werden, das gemeinsam dem übermächtigen Regime die Stirn bietet und Halt aneinander findet, zu überzeugen vermögen. Großartig aber auch Friedrike Majerczyk als Wladimir Putin: Insbesondere die Besetzung der Rolle mit einer Frau lässt das aggressive Macho- und primitive Imponiergehabe des Kremlherrschers umso deutlicher hervortreten, etwa durch das von Majerczyk treffend imitierte, demonstrativ breitbeinige Sitzen Putins – schon Hillary Clinton hatte sich vor Jahren über das ostentative „Manspreading“ des Kremlchefs mokiert. Dabei setzt sie auch einige komisch-satirische Akzente, so wenn sie ihren Diener Gerhard herumkommandiert, dem Publikum „gesunden“ russischen Tee anbietet oder von Hyatt festgestellte Fakten, die auf Putin als Auftraggeber verweisen, mit falscher Treuherzigkeit abstreitet oder mit rumpelstilzchenhaften (Ablenkungs-)Angriffen auf den Westen beantwortet. Und auch Michael Hiller läuft an diesem Premierenabend in der Rolle des Boris Beresowski zu großer Form auf: Mit varietéartigen Gesangs- und Tanznummern und mit Glitzersacko, mächtiger goldener BB-Gürtelschnalle und goldenen Schuhspitzen angetan verkörpert er den gönnerhaften, von sich selbst eingenommenen Oligarchen, der den großen Zampano spielt, und mit derber Wortwahl auf Putin schimpft („Tschekistenw*chser“), den er überhaupt erst groß gemacht habe.
Es sind auch diese heiteren Momente, die die bedrückende Geschichte des kaltblütigen Giftmordes immer wieder satirisch brechen, die die Trier Inszenierung von „Extrem teueres Gift“ so gelungen machen. Ohne dass das Schreckliche des Geschehens als solches ins Lächerliche abglitte, wird die kaltherzige Machtmaschine hinter dem Auftragsmord nicht nur angeklagt, sondern auch ein Stück weit auf satirische Weise bloßgestellt und lächerlich gemacht. „Extrem teures Gift“ ist somit zweierlei: Ein extrem wichtiges Stück über ein politisches Verbrechen, das in der Rückschau noch bedeutsamer erscheint, weil sich an ihm die Menschenverachtung des „Systems Putin“ paradigmatisch ablesen lässt, und ein extrem packender, auf akribische Weise dokumentarischer Polit-Thriller über ein bewegendes menschliches Schicksal, das niemanden kaltlassen kann.
weitere Termine: 30.9., 8.10. (jeweils 19.30 Uhr), 29.10. (16.00 Uhr) und 5.11. (18.00 Uhr)
















