TRIER. Das Theater Trier zeigt mit Verdis „La Traviata“ den „Inbegriff der romantischen italienischen Oper“ in einer Inszenierung von Benedikt Arnold, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, „den inneren Vorgängen nachzuspüren und sie so intensiv und lebendig wie möglich auf die Bühne zu bringen.“ Das Premierenpublikum ließ sich vom Zauber dieses romantischen Meisterwerks erfassen und erlebte drei exzellente Sänger in den Hauptrollen einer einfühlsamen Inszenierung, der Momente zwischen Märchen, Traum und Archetypik gelingen.
Von Alexander Scheidweiler
Die Gründe, warum „La Traviata“ nicht nur die meistgespielte Verdi-Oper, sondern eine der am häufigsten gespielten Opern überhaupt ist, liegen auf der Hand. Da ist zunächst die Geschichte der Kurtisane Violetta Valéry, die Verdi der „Kameliendame“ von Dumas fils entnahm und die auf der Vita der zu ihrer Zeit bedeutendsten Pariser Kurtisane Marie Duplessis fußt, zu deren zahlreichen prominenten Liebhabern u.a. Franz Liszt gehörte. Unter der Feder von Dumas fils bzw. Verdis Librettisten Francesco Maria Piave wird sie zur Gefallenen – oder eben „vom Wege Abgekommenen“ („Traviata“) – deren gutes Herz sich trotz ihres zweifelhaften Lebenswandels bewährt. Sie entsagt ihrer großen Liebe Alfredo Germont auf Drängen von dessen Vater Giorgio, um die Familie durch die Mesalliance nicht zu kompromittieren. Die Reue von Vater und Sohn Germont kommt am Ende zu spät: Die Tuberkulosekranke stirbt vor den Augen des Geliebten als eine Art neue Maria Magdalena, justament als dieser gehofft hatte, sie auf immer in die Arme zu schließen. Wen rührte diese Geschichte von Leidenschaft und Opfer nicht, mag sie auch stellenweise arg melodramatisch daherkommen?
Sodann natürlich die Musik: Das Trinklied der Festgesellschaft des ersten Aktes („Libiam ne’ lieti calici“) kennen selbst jene, die nie ein Opernhaus von innen gesehen haben. Beim großen Liebesduett Alfredos und Violettas, „Un dì, felice, etera“, das die Liebe als „Kreuz und Wonne des Herzens“ preist („Croce e delizia al cor“), schmelzen die Herzen der Zuschauer gleich mit, um dann, im dritten Akt, bei dem erschütternden Abschiedsgesang Violettas, „Addio, del passato“, aus Mitleid mit der von einer bigotten Gesellschaft Verkannten zu brechen.
Der Zauber der „La Traviata“
Und dieser Zauber der „La Traviata“, er teilt sich mit, auch 172 Jahre nach der Uraufführung am La Fenice in Venedig. Auch das Trierer Premierenpublikum im vollbesetzten Großen Haus des Theaters Trier ließ sich am gestrigen Sonntagabend verzaubern, wovon frenetischer Szenen- und Schlussapplaus überdeutlich zeugten. Das Theater Trier zeigt diesen „Inbegriff der romantischen italienischen Oper“, so das Theater mit Recht in seiner Ankündigung, in einer Inszenierung des jungen, aus Südbaden stammenden und in Wien ausgebildeten Regisseurs Benedikt Arnold. Im Gespräch mit Dramaturg Malte Kühn erklärt Arnold zu seinem Regiekonzept: „Mein eigener Zugang besteht weniger darin, etwas demonstrativ ‚Neues‘ erfinden zu wollen, sondern vielmehr darin, den inneren Vorgängen nachzuspüren und sie so intensiv und lebendig wie möglich auf die Bühne zu bringen.“
Gott sei Dank, muss man sagen, denn nicht selten wird ja krampfhaft aktualisiert und verheutigt, einfach damit man irgendwas mit dem Werk gemacht hat, es mag dann werden, wie’s will. Nicht so die Arnold’sche Inszenierung, die ganz auf die Protagonistin, die ja nicht umsonst der Oper den Titel gibt, fokussiert. Ihr Schicksal berühre auch heute noch unmittelbar, so der Regisseur: „Ihr gesellschaftliches Außenseitertum, ihr Liebeskummer und ihr Schmerz haben nichts von ihrer Dringlichkeit verloren.“
Cineasten werden sich vielleicht entsinnen, dass Lorelei Lee, die von Marilyn Monroe gespielte Tänzerin in der Komödie „Gentlemen Prefer Blondes“ (1953) in einer Szene den abgründigen Satz sagt: „It’s a terrible thing to be lonesome, especially in the middle of a crowd.“ Ein unendlich trauriger, ein erschütternder Satz, der so gar nicht in eine Komödie passen will und der wie emblematisch über dem tragisch geendeten Leben der Diva stehen könnte, die 1962 im Alter von nur 36 Jahren unter Umständen starb, um die sich noch heute Mythen und Legenden ranken – so wie der Satz auch über dem fiktionalen Leben Violetta Valérys und ihres historischen Vorbildes Marie Duplessis stehen könnte, die gar schon im zarten Alter von 23 Jahren starb.
Die von vielen Männern begehrte Kurtisane Violetta, Königin der Bälle und Salons, im Grunde ist sie in der riesigen Metropole von Paris allein, mitten unter Menschen. Die Ungläubigkeit, mit der sie in der dritten Szene des ersten Aktes auf Alfredos Liebeserklärung reagiert, zeigt diese Einsamkeit („Che dite? … ha forse alcuno / Cura di me?“ – „Was sagt Ihr? … kümmert sich etwa jemand um mich?“)
Eine einfühlsame Inszenierung
Dieser Befindlichkeit, dieser Verletzlichkeit und diesem Seinsgeschick spürt Arnolds einfühlsame Inszenierung gekonnt nach. Immer wieder gelingen mit einfachen, aber hochästhetischen Mitteln Momente, die zwischen Märchen, Traum und Archetypik zu schweben scheinen. Dabei unterstützt das Bühnenbild (Alfred Peter), das auf mächtige, gestaffelte weiße Wände setzt, die horizontal und vertikal bewegt werden können. Es wirkt wie ein Kontrastmittel, von dem sich die Konturen der ab Mitte der Handlung in schwarz gekleideten Violetta (Sophia Theodorides) scherenschnittartig abheben. Der Landsitz des zweiten Aktes wird nur durch einen von oben herabhängenden Ast angedeutet.
Schon während die Ouvertüre erklingt, steht die Koloratursopranistin, gekleidet in einen kimonoartigen Mantel (Kostümbild: Charlotte Morache), in merkwürdig zusammengesunkener Haltung auf der Bühne, wie eine Gliederpuppe oder eine Marionette, der die Fäden durchgeschnitten wurden oder die noch darauf wartet, dass der Puppenspieler, und nicht ihr eigener Wille, sie bewege. Sodann legt sie den Kimono ab und von oben schwebt ihr Ballkleid herab – die Puppe wird angezogen, um auf der Bühne der Pariser „Monde“ zu tanzen, nach deren Konventionen, nicht nach dem Takt ihres Herzens. Immer wieder fällt Theodorides im Laufe der Handlung in die zusammengesunkene Marionettenhaltung zurück, immer wieder markiert die verschiedenfarbige Kleidung ihre Einsamkeit in der Menge, so indem Violetta im ersten Akt weiß, die Gäste ihres Salons hingegen schwarz tragen, während es im zweiten Akt, im Palais Floras, umgekehrt ist. Im dritten Akt schließlich ist die Sterbende auf ihrem Krankenlager in eine riesige dunkelgrüne Stoffbahn gehüllt – ein beeindruckendes Tableau Vivant und vielleicht ein Zeichen, dass die Hoffnung vielleicht doch nicht ganz verloren ist? Auch hier jedoch wirkt sie einsam, bleiben die bei ihrem Tode Anwesenden, selbst der Geliebte Alfredo (Gustavo Eda), merkwürdig auf physischer Distanz.
Sänger und Orchester mit vollendetem Verdi-Klang
Dabei singt und spielt Theodorides hinreißend: Mit Verve, Bravour und Panache singt sie die rauschhaft-vitalistische Freiheitshymne „Sempre libera“ am Ende des ersten Aktes; Seelenqualen spiegeln sich in Gestik, Mimik und Stimme, wenn sie im zweiten Akt im Gespräch mit Vater Giorgio Germont (Yuriy Hadzetskyy) erkennen muss, dass es für sie und Alfredo keine Zukunft gibt; mit zartem, verklärtem Schmelz singt sie im dritten Akt das „Addio, del passato“, während glitzernde Silberstreifen auf sie herabregnen.
Mit Gustavo Eda steht Theodorides ein Alfredo zur Seite, der gleichfalls keine Wünsche offen ließ: Schwungvoll beim Trinklied, leidenschaftlich beim „Un dì, felice, etera“, von aufbrausender Virilität bei der Arie des verletzten Ehrgefühls „O mio rimorso“ sowie buchstäblich am Boden zerstört nach der Konfrontation mit Violetta. Mit sicherer Stimmführung und schauspielerischem Können liefert Eda so vielleicht seine bisher beste Leistung am Theater Trier.
Von beeindruckender Kraft war Yuriy Hadzetskyys Giorgio Germont. Eine schwierige Rolle, denn der Vater, der einen Keil zwischen das Liebespaar treibt, um die soziale Konvention zu wahren, ist nicht gerade ein Sympathieträger. Dass der hünenhafte Ukrainer über enorme stimmliche Power verfügt, hat Hadzetskyy in Trier bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Wenn man bedenkt, dass er eigentlich einen Greis darstellt, so kommt sein Vater Germont fast ein bisschen zu jugendlich daher, eher ein Herkules denn ein Nestor. Doch Hadzetskyy weiß in seinen kraftvollen Bariton auch viel Wärme zu lagen, so bei der großen Arie „Di Provenza il mar, il suol“, mit der er seinen Sohn beschwört, auf den Pfad der Tugend zurückzukehren – oder auf das, was er dafür hält. Gleichviel wie man das inhaltlich bewerten mag: Hadzetskyy trägt die Arie mit der echten Empfindung eines Vaters vor, der den verlorenen Sohn ruft. Auch am Ende, als er am Sterbebett Violettas um Vergebung bittet, vermag Hadzetskyy der Figur durch ehrliche Reue einen sympathischen Zug zu verleihen.
Die Sängerinnen und Sänger, die die weiteren Rollen verkörpern – so die Ensemble-Mitglieder Janja Vuletič als Annina, Karsten Schröter als Doktor Grenvil und Derek Rue in verschiedenen Rollen, u.a. als Vicomte de Letorières – bieten gute Leistungen, in dem überschaubaren gestalterischen Rahmen, den diese kleineren Rollen bieten.
Erwähnenswert ist indes noch Vanessa Lisette López-Gallegos, die in der Rolle der Flora Bervoix im zweiten Akt einen starken Auftritt hat. Als Herrin des Fests und weiblicher Zampano dirigiert sie das Geschehen, tanzt gar mit Derek Rue auf dem Tisch und gefällt mit volltönendem und biegsamem Mezzo.
Opern- und Extrachor zeigen sich von Chordirektor Martin Folz gewohnt gut einstudiert und spielfreudig. Insbesondere beim erwähnten Fest in Floras Palais, das im Eklat endet, gelang der Umschlag von ausgelassener Feierlaune zu Bestürzung nahezu bruchlos. Müssen allerdings die idiosynkratischen Kopfbedeckungen im zweiten Akt wirklich sein?
Generalmusikdirektor Jochem Hochstenbach am Dirigentenpult schließlich trieb das Philharmonische Orchester der Stadt Trier zu einem vollendeten Verdi-Klang, der vor der großen Emotion nicht zurückscheute, aber auch nicht ins Verkitschte abglitt. Speziell das Vorspiel zum dritten Akt, in dem die Streicher so bedeutungsschwanger und unheilkündend klagen, war wundervoll, aber auch die getragene, im wahrsten Sinne des Wortes respekt- und taktvolle Begleitung von Theodorides’ exzellentem „Addio, del passato“ gelang makellos.
Weitere Termine: 22.11., 19.30 Uhr; 25.11., 19.30 Uhr; 5.12., 19.30 Uhr; 25.12., 18.00 Uhr














