Psychothriller, packend inszeniert: „The Turn of the Screw“ am Theater Trier

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Die Gouvernante (Eva Maria Amann), Flora (Lara Rieken) und Mrs Grose (Janja Vuletić, v.l.n.r.). Foto: Martin Kaufhold/Theater Trier

TRIER. Am gestrigen Samstagabend erlebte im Großen Haus des Theaters Trier die Kammeroper „The Turn of the Screw“ von Benjamin Britten ihre Premiere. Die vielfach preisgekrönte Regisseurin Sandra Leupold inszeniert das Psychodrama um eine viktorianische Gouvernante packend und mit genauem Blick für die Figurenpsychologie. Vordergründig eine Geistergeschichte, erzählt das Werk von unerfülltem Begehren und seelischen Abgründen.

Von Alexander Scheidweiler

Die Presseankündigung des Theaters Trier sparte nicht mit Lob für die Regisseurin und den Komponisten der dichten, fesselnden Kammeroper, mit der das Theater am gestrigen Samstagabend im Großen Haus die neue Saison eröffnete: Sandra Leupold sei „eine der herausragenden Stimmen der gegenwärtigen Opernregie“, die für „eine eindrückliche und kompromisslose Regiesprache“ stehe; mit dem Baron Britten of Aldeburgh stehe „ein Monument der Moderne“ auf dem Spielplan. Tatsächlich wurde die schweizerisch-deutsche Regisseurin vielfach ausgezeichnet – u.a., aber bei weitem nicht nur, mit dem wichtigsten deutschen Theaterpreis „Faust“. Und tatsächlich ist es wohl nicht übertrieben, den von der dahingegangenen Queen geadelten Benjamin Britten als einen der bedeutendsten Komponisten der Moderne zu bezeichnen.

Immer obsessiver werden die Versuche der Gouvernante (Eva Maria Amann), die Geheimnisse von Bly zu lüften. Im Hintergrund Miles (Jens ginge Skov), Flora (Lara rieken) und Mrs Grose (Janja Vuletić). Foto: Martin Kaufhold / Theater Trier

Leider ist es ja gleichwohl eine nicht nur im Kulturbereich gängige Erfahrung, dass dasjenige, was zu Werbezwecken als hochkarätig angepriesen wird, sich bei näherer Betrachtung eher als mittel- bis niederkarätig erweist. So war es aber gestern Abend im Großen Haus des Theaters Trier nicht, im Gegenteil. Mit Fug und Recht kann und muss man sagen, dass die Leupold’sche Inszenierung von Brittens „The Turn of the Screw“ intensiv, packend und geradezu mitreißend war. Mit der gestrigen Premiere ist dem Theater Trier ein geradezu fulminanter Start in die neue Spielzeit gelungen.

Psychodrama mit sich stetig steigernder Spannung

Das Psychodrama, das hier zur Ausführung gelangt, basiert auf einer Novelle des anglo-amerikanischen Meisters des psychologischen Realismus, Henry James, die die Geschichte einer viktorianischen Gouvernante in ihrer ersten Anstellung erzählt, welche von einem Londoner Gentleman auf das abgelegene Landgut Bly entsandt wird, um sich dort seines Neffen Miles und seiner Nichte Flora anzunehmen, die dort mit der alten Haushälterin Mrs Grose leben. Streng schärft der viel beschäftigte Vormund, in Trier verkörpert von Octavio Maytin, der namenlosen Gouvernante ein, dass sie allein verantwortlich sei und ihn nicht weiter zu behelligen habe. Auf dem Gut angekommen, mehren sich die Zeichen dunkler Geheimnisse: Die Geister des verstorbenen Dieners Peter Quint und der ehemaligen Gouvernante Miss Jessel, die ein Paar waren und unter seltsamen Umständen ums Leben kamen, Spuren auf dem Landgut und stehen in einer geheimnisvollen Beziehung zu den Kindern.

In ihrem Versuch, die Kinder zu schützen und die Geheimnisse von Bly zu ergründen, agiert die Gouvernante immer manischer und obsessiver, verursacht sie am Ende den Tod des Knaben, den sie schützen wollte. Anspielungen auf das auf den Vormund gerichtete erotische Begehren der Gouvernante, pädophile Neigungen von Quint zu Miles, die beginnende Adoleszenz des Knaben und verstörende Fragen Floras durchziehen das Werk, dessen Geistergeschichte in einer Grauzone angesiedelt ist: Die Frage, ob sich das Geschehen und v.a. die Geistererscheinungen im Kopf der Gouvernante abspielen oder nicht, wird nicht letztlich beantwortet. Der zunächst merkwürdig anmutende Titel erklärt sich aus der stetigen Steigerung der Spannung – metaphorisch gesprochen: dem ständigen Weiterdrehen der Schraube – das am Ende bis zu ihrem Überdrehen bzw. Brechen getrieben wird.

Offenlegen der Technik – Offenlegen der Psyche

Das von Flurin Borg Madsen gestaltete Bühnenbild zeichnet sich durch ein Höchstmaß an Reduktion aus. Als einziges raumgreifendes Element und Symbol fallen drei riesige weiße Latexbahnen ins Auge, die zwischen der Decke und dem drehbaren Teil des Bühnenbodens straff gespannt sind und schließlich nach und nach reißen, wenn das drehbare Bodensegment sich im Laufe der Vorstellung weiterbewegt. Madsen: „Die Schraube ist bei uns eine großformatige Konstruktion aus zwei Ringen und bis zum Anschlag gespannten Latexbahnen, eine Anspannung bis zum Wahnsinn. […] Wir wollen keine konkrete Bebilderung, sondern Kopfkino anstoßen.“

Flora (Lara Rieken) entwickelt sich vom braven Mädchen zu verstörender Fremdartigkeit. Foto: Martin Kaufhold / Theater Trier

Die schwarze Rückwand dient als Projektionsfläche. Zu Beginn, während des Prologs, wird dort der Anfang der James-Novelle gezeigt, später immer wieder Bilder des Komponisten mit Jungen, liegt doch, wie Leupold in einem klugen Text im Programmheft ausführt, viel von Benjamin Brittens eigenen seelischen Abgründen in seinem Werk, empfand der Komponist doch selbst eine erotische Neigung zu Knaben, die er gleichwohl nie auslebte, sondern künstlerisch sublimierte. Vor allem aber wird wieder und wieder und mit zunehmender Frequenz die Formel „I will“ eingeblendet, mit dem die Gouvernante dem Prolog zufolge in die Forderung des Vormunds, die Verantwortung für die Kinder zu übernehmen und ihn nicht zu behelligen einwilligte, eine einfache Formel, die bekanntlich auch bei der Eheschließung verwendet wird und die so auf das unerfüllte Begehren der Gouvernante verweist.

Auf Seitenwände wurde ebenso verzichtet wie auf Vorhänge zwischen den Akten, so dass der Blick auf die Beleuchtungstechnik links und rechts des Spielraumes freigegeben wird. So, wie die Inszenierung die Abgründe und Mechanik der Figurenpsychologie offenzulegen sucht, legt das Bühnenbild die Maschinerie des Theaters selbst frei.

Intensive Performance, starke Stimmen

Zur erfolgreichen Realisation der gerade auch ihre abstrakte Schlichtheit und gedankliche Verdichtung beeindruckenden Inszenierung trägt eine überragende Eva Maria Amann in der Hauptrolle der Gouvernante viel bei. Zuletzt war die Sopranistin in Trier als holde Rosalinde in der Wiederaufnahme der „Fledermaus“ zu hören, nun brilliert sie in einer so gänzlich anderen Rolle. Schon rein schauspielerisch bringt sie den Wandel von anfänglichem Optimismus mit Blick auf die neue Anstellung sowie die zu Beginn positive Beziehung zu den Kindern hin zu wachsender Besessenheit, zu einer geradezu im griechischen Sinne tragischen Verfallenheit an die Dämonie des Wissen-Wollens zur Anschauung. Immer wieder rennt sie hochsymbolisch auf den Abgrund des Orchestergrabens zu, an dem sie mit vor Entsetzen starrem Blick sitzt, während in der achten Szene des ersten Aktes im Hintergrund der Geist Peter Quints (Derek Rue) den jungen Miles, gesungen von Jens Ginge Skov, umgarnt. Schließlich reißt sie sich im Wahnsinn das viktorianische Gouvernantenkleid (Kostüme: Anja Jungheinrich) vom Leib und rutscht nach dem Tod Miles’ entkräftet auf dem Boden Richtung Orchestergraben/Abgrund. Eine äußerst intensive Performance, die im Gedächtnis bleiben wird. Dabei zeigt sie auch stimmlich, was sie kann, vielleicht am deutlichsten in der berühmten „Tower Scene“, in der sie Quints erstmalig ansichtig wird. Die Arie „How beautiful it is“, in der die Stimmung von der Hoffnung auf Beheimatet-Sein auf dem idyllischen Landgut (The birds fly home to these great trees, / here too I am at home. / Alone, tranquil, serene.) umkippt zum Erschrecken vor der tiefen Fremdheit der Erscheinung Quints (Some fearful madman / locked away there? / Adventurer? Intruder?“) trägt sie mit Klarheit, Nuanciertheit und fein abgestimmter Emotionalität vor.

Peter Quint (Derek Rue) und Miss Jessel (Silja Schindler) machen sich an der schlafenden Gouvernante zu schaffen. Foto: Martin Kaufhold / Theater Trier

Amann zur Seite und als ihr Widerpart spielt Derek Rue einen zugleich lockenden und bedrohlichen Peter Quint, der ein erstaunliches gesangliches Spektrum abdeckt: Beeindruckend, wie er in der bereits erwähnten Szene umzuschalten vermag von den einschmeichelnden „Miles! Miles!“-Rufen zu einem geradezu muskulös-männlichen Tenor, der von einer aggressiven Virilität zeugt: „I am all things strange and bold, / The riderless horse Snorting, / stamping on the hard sea sand, / The hero-highwayman / plundering the land.“ Man fühlt sich erinnert an sein exzellentes „Since it is not by merit“ in der Rolle des Tom Rakewell in Strawinskys „Rake“ zum Saisonstart vor drei Jahren (lokalo.de berichtete). Auch Rues Vortrag des Prologes mit in sich ruhender Souveränität zog den Zuhörer direkt in die Welt von Bly hinein.

Einen hervorragenden Einstand hatte am gestrigen Abend Neu-Ensemble-Mitglied Lara Rieken. Ähnlich wie Amann in der Rolle der Gouvernante versteht sie es, den tiefgreifenden Wandel Floras vom braven viktorianischen Mädchen, das auf Anweisung von Mrs Grose ehrerbietig knickst, zum fremdartigen Kind, das sich zusehends verstörend verhält – nicht zuletzt in den immer destruktiveren Spielen, die sie mit einer Puppe spielt, die geradezu ihr Widerbild ist – zu veranschaulichen; am Ende scheint sie sie als eine Art weiblicher Saturn im Hintergrund der Bühne geradezu zu verschlingen. In der Szene am See singt sie mit warmen Klangfarben, die gleichwohl seelische Untiefen erahnen lassen, ihrer Puppe das „Go to sleep“ vor, während sie dieselbe in einer Wasserschüssel, die den See vorstellt, ertränkt.

Jens Ginge Skov als Miles, im Hintergrund Miss Jessel (Silja Schindler). Foto: Martin Kaufhold / Theater Trier

Silja Schindler wirkt als schwarzbekleidete Wasserleiche in der Rolle der Miss Jessel schon rein optisch eindrucksvoll, ihrem ansonsten glockenhellen Sopran verleiht sie passenderweise eine etwas dunklere Einfärbung. Janja Vuletić gibt die Haushälterin Mrs Grose als betulich-überforderte Matrone, wobei man der Sängerin anmerkt, dass sie bei allem künstlichen Grau in den Haaren eigentlich zu jugendlich für diese Rolle ist, sowohl vom Erscheinungsbild wie auch von der frischen Klarheit ihres Mezzos her. Der junge dänische Countertenor Jens Ginge Skov fand sich gut in den diffizilen Part des Miles und gefiel mit trittsicherer Stimmführung und seinem einfühlsamen Vortrag des „Malo“-Liedes.

Instrumentale Juwelen und ein Wassereinbruch

Die nur dreizehn Musiker aus dem Philharmonischen Orchester der Stadt Trier zaubern unter dem Dirigat des Ersten Kapellmeisters Wouter Padberg einen Klang, der die wachsende Spannung, die metaphorische „Drehung der Schraube“, in ihrer Dynamik erfahrbar macht. Sicher leitet Padberg das Kammerorchester durch die Partitur, wobei gerade in den instrumentalen Variationen zwischen den Szenen kleine Juwelen gelingen, speziell der Flöte in der dritten und der Harfe in der achten Variation. Aber auch die für Brittens Musik so bezeichnenden, folkloristischen Sequenzen – Kenner werden sich an die Suite für Kammerorchester „A Time There Was“ erinnert fühlen – die die Spiele der Kinder untermalen, gelingen den Trierer Musikern vorzüglich.

Das Kleid zerrissen, dem Wahnsinn nahe: Eva Maria Amann als Gouvernante. Foto: Martin Kaufhold / Theater Trier

Nach dem begeisterten Premierenapplaus bat ein Vertreter des Theaters das Publikum unter gleichfalls großem Applaus, sich nicht beirren zu lassen, wenn gegen das Theater Stimmung gemacht werde. Man stehe so kurz vor der Generalsanierung wie noch nie und hoffe, das Publikum baldmöglichst in einem runderneuerten Haus zu weiteren tollen Theaterabenden begrüßen zu können. Aktuell sei aufgrund des starken Regens erneut ein Wasserschaden aufgetreten. Konkret war Regenwasser „aus der Wand gelaufen“, so dass „in den Büros nach Kurzschluss der Strom ausfiel“, Flur und Stimmzimmer seien ebenfalls betroffen gewesen, wie Intendant Lajos Wenzel in den sozialen Medien schreibt.

Bis in den Zuschauerraum war das Wasser glücklicherweise nicht gelangt, dort war die Stimmung unter dem Trierer Opernpublikum hervorragend.

weitere Termine: 28.9., 18.00 Uhr; 7.10., 19.30 Uhr; 7.11., 19.30 Uhr; 19.11., 19.30 Uhr

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