MAINZ. Seit der Reform des Sexualstrafrechts 2016 suchen mehr Opfer dieser Straftaten Unterstützung beim Weißen Ring. «Wir haben etwa sechs bis zehn Prozent mehr Fälle von Sexualdelikten», sagte der Bundesvorsitzende des gemeinnützigen Vereins und ehemalige BKA-Chef, Jörg Ziercke, im Redaktionsgespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Mainz. «Bei einigen liegen die Taten schon Jahre zurück.» Die Polizeiliche Kriminalstatistik habe seit der Gesetzesnovelle rund 20 Prozent mehr Anzeigen registriert. Auf eine angezeigte Tat kämen Schätzungen zufolge aber noch etwa vier bis fünf Fälle im Dunkelfeld.
Auch eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur in mehreren Bundesländern ergab, dass nach der Strafrechtsreform mehr Sexualdelikte bei der Polizei registriert wurden. So wurden etwa im Jahr 2018 im bevölkerungsreichsten Land Nordrhein-Westfalen 14 600 Ermittlungsverfahren eingeleitet, das war nach Angaben des Justizministeriums ein Plus im Vergleich zu 2017 von 9,6 Prozent. Der Anstieg könnte im Zusammenhang mit der Gesetzesänderung und einem erhöhten Anzeigeverhalten infolge der «MeToo»-Debatte stehen. Unter dem Hashtag #MeToo posteten vor allem Frauen in sozialen Netzwerken millionenfach ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen.
Ein ähnliches Bild bietet sich in Baden-Württemberg, Bayern und anderen Bundesländern. In Baden-Württemberg wurden 2018 insgesamt 7607 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung angezeigt, das bedeutet ein Zuwachs von etwa einem Viertel binnen eines Jahres. Zu dem Anstieg hätten die Verschärfung des Sexualstrafrechts Ende 2016 – Stichwort: «Nein heißt nein» – sowie die «MeToo»-Debatte beigetragen, heißt es dazu aus dem Innenministerium in Stuttgart.
Auch Sachsen-Anhalt, Hamburg, Niedersachsen, Bremen und Berlin wurden steigende Zahlen registriert. Das niedersächsische Landeskriminalamt wies darauf hin, es sei möglich, dass viele Delikte seit der Strafrechtsverschärfung nicht mehr als Beleidigung auf sexueller Grundlage, sondern als sexuelle Belästigung gefasst werden.
Die Sprecherin der Staatsanwaltschaft in Hessens größter Stadt Frankfurt, Oberstaatsanwältin Nadja Niesen, sagte, was genau Menschen zum Anzeigen bewege, seien gefühlsmäßige Schätzungen. «Dass es durch MeToo mehr Anzeigen gab, kann ich nicht bestätigen.» Hauptgrund für den Anstieg sei sicherlich die Verschärfung des Sexualstrafrechts, nach der nun auch beispielsweise der Klaps auf den Po eine Straftat sei.
Neben Sexualdelikten und Einbrüchen ist Stalking eine der häufigen Straftaten, wegen der sich Opfer an den Weißen Ring wenden. In der Polizei-Statistik seien derzeit nur rund 18 960 Fälle von Stalking registriert, aber nur in etwa einem Prozent davon komme es zu Verurteilungen, sagte Ziercke. Das Dunkelfeld sei zudem «riesengroß». Schätzungen gingen von mindestens 200 000 bis 300 000 Fällen aus. Für Betroffene von Stalking hat der Weiße Ring eine App entwickelt, mit der Opfer über das Smartphone Beweise sammeln und den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung stellen können.
«Stalking ist psychische Gewalt und muss zur Entschädigung berechtigen», sagte Ziercke. «Nach dem aktuellen Entwurf einer Vorschrift für das von Bundesminister Hubertus Heil (SPD) geplante neue Soziale Entschädigungsrecht soll das nur in bestimmten schweren Fällen in der Regel gelten», kritisierte Ziercke. «Das ist zu einschränkend.»
Der Weiße Ring befasst sich im Jahr mit den Opfern von rund 25 000 Fällen. Der gemeinnützige Verein lebt von den Beiträgen seiner rund 47 000 Mitglieder und von Spenden. 3000 ehrenamtliche Mitarbeiter sind in 400 Außenstellen in 18 Landesverbänden aktiv. Dazu kommen etwa 120 hauptamtlich Beschäftigte, die meisten davon am Sitz in Mainz.