TRIER. Am gestrigen Samstagabend feierte Verdis letzte Oper „Falstaff“ im Großen Haus des Theaters Trier Premiere. Die stimmige und gelungene Inszenierung von Jean-Claude Berutti betont die Commedia dell’arte-Elemente, verlegt die Handlung in die Ära Goldonis und inszeniert die auf einer Shakespeare-Komödie basierende komische Oper als Karneval in Venedig.
Von Alexander Scheidweiler
Gewohnt informativ setzt das Programmheft des Theaters Trier zur gestrigen Premiere von Verdis Spät- und sogar Letztwerk „Falstaff“ den Leser darüber ins Bild, dass Librettist Arrigo Boito für den der Opera buffa zugrundeliegenden Text auf „Die lustigen Weibern von Windsor“ und „Henry IV.“ zurückgegriffen hat – was ja naheliegend ist, denn genau da kommt der Protagonist nunmal auch vor. Umso origineller der Regieeinfall des emeritierten Trierer Operndirektors Jean-Claude Berutti, der für die stimmige und gelungene Inszenierung verantwortlich zeichnet, den Abend mit Mrs. Quicklys Bericht vom Tod Falstaffs aus dem zweiten Akt von „Henry V.“ beginnen zu lassen. Sicherheitshalber ist der Text auch im Programmheft wiedergegeben, schließlich gehört nicht jeder zu den „happy few“ (Achtung: auch „Henry V.“, diesmal vierter Akt, Monolog des Königs), die das unmittelbar präsent haben.
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Und so begann der Opernabend, indem Gastsängerin Hélène Bernardy als Quickly, im Auditorium links stehend, die traurige Geschichte vom Hingang des gargantuesken Säufers und Fressers Falstaff rezitierte, während auf der Leinwand im Bühnenraum ritterliche Schlachtszenen in Schwarz-Weiß auf die (mehr oder minder) ruhmvolle Militärkarriere des Verschiedenen im Hundertjährigen Krieg verwiesen: „Ich steckte die Hand ins Bett hinein, und seine Füße waren so kalt wie Stein; dann fühlte ich seine Knie, und weiter hinauf, und immer weiter; aber alles war so kalt, wie kalte Steine.“
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Doch so weit ist es einstweilen noch nicht gekommen! Vielmehr scheint der Boito-Verdi’sche Falstaff, in Trier von einem weiteren Gast, Anton Keremidtchiev grundsolide mit weittragendem Bariton gesungen, sich jenes anderen Königsmonologes aus Henry V. zu erinnern und wie der seine Mannen anspornende Monarch sich selbst zuzurufen: „Noch einmal stürmt, noch einmal, liebe Freunde!“ So singt er sich denn selbst(verliebt) im ersten Bild des zweiten Aktes ein stolzes „Va, vecchio John, va, va per la tua via“ („Geh’, alter John, geh’, geh’ auf deinem Weg“) zu, voreilig imaginierend, welche Genüsse ihm sein in seinen Augen doch noch immer stattlicher Leib eintragen werde, sobald die schönen Bürgersfrauen Alice Ford (Magdalena Polkowska) und Meg Page (Janja Vuletić) in seinen Armen seinen lägen (und er Zugriff auf ihre prall gefüllten Haushaltskassen bekäme, um die eigene, im Lotterleben lotterleergezechte Börse wieder zu füllen). Sehr vergnüglich, wie selbstgefällig Keremidtchiev sich beim Vortrag zu spreizen weiß, ebenso vergnüglich wie die begütigend-väterliche Sattheit der Minen, mit der er den gleich darauf inkognito bei ihm erscheinenden Ford (André Baleiro) bedenkt. Umso vergnüglicher freilich, als ja alles bekanntlich sowieso ganz anders kommt und Quickly, Alice, Meg und die von Einat Aronstein gesungene Nannetta die Leibesfülle des alternden Schwerenöters gerade erst im vorangegangenen Bilde genüßlich mit einer Kaskade deftiger Metaphern verspottet hatten, als sein ebenfalls von maßloser Selbstüberschätzung und Realitätsverlust zeugender Plan, zwei Frauen mit identischen Liebesbriefen zu verführen, aufgeflogen war und die lustigen Weiber ihre Rache planten.
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Dabei hat Berutti die Handlung übrigens vom spätmittelalterlichen Windsor in ein verschneites Venedig des 18. Jahrhunderts verlegt, was die Möglichkeit eröffnet, die Commedia dell’arte-Elemente des Falstaff-Librettos umso besser herauszustreichen. Im späten 19. Jahrhundert erlebte Goldoni in Italien eine Renaissance, an der auch Verdi und Boito regen Anteil nahmen, wie das Programmheft darlegt – und dass Shakespeares Komödien sowieso gewisse Gemeinsamkeiten mit der Commedia dell’arte aufweisen, dürfte wohl schwer zu übersehen sein. Jedenfalls tragen Sänger und Schauspieler hübsch anzusehende Kostüme im Stil des 18. Jahrhunderts (Kostümbild: Jeanny Kratochwil) und dürfen sich sich – besonders im Feen-Mummenschanz des letzten Bildes – in den harlekinesken Verkleidungen und Masken der italienischen Komödien-Typen zeigen, wenngleich das an Watteau erinnernde Gilles-Kostüm, das Einat Aronstein in dieser Szene trägt, nicht so ganz zu einer Feenkönigin passen will, die Nannetta ja in diesem Moment verkörpert.
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Das Bühnenbild von Rudy Sabounghi deutet Gebäude mit an die Lagunenstadt erinnernden Spitzbögen an, Fords Garten liegt an einem Kanal, über den er im zweiten Bild mit Dr. Cajus (Rysuke Haskell Sato), Fenton (Derek Rue) und Bardolfo (Kenny Ferreira) mit einer Gondel einherfährt. Die moderat historisierende Optik von Kostümen und Bühnenbild verfehlt ihre Wirkung nicht: Man fühlt sich in das Italien der Ära Goldonis versetzt, wo sich die Geschichte von Falstaffs Fall (im doppelten Sinne) und letztlicher Besserung als Karneval in Venedig abspielt. Merry Old England trifft karnevaleske Dolce Vita italiana, und das Ganze wirkt völlig natürlich. Als wär’s schon immer so gewesen.
À propos Falstaffs Fall: Für Fords Haus im tumultuösen zweiten Bild des zweiten Aktes nutzt die Trierer Inszenierung die Möglichkeiten der Simultanbühne, so dass Polkowska und Vuletić im ersten Stock die schwülstig-großsprecherischen und linkisch-ungestümen Avancen Falstaffs an Alice im Erdgeschoss auf ergötzliche Weise (panto-)mimisch karikieren können. Dem Venedig-Setting entsprechend landet der im Wäschekorb versteckte Ritter nicht im Gartenteich, sondern im Kanal, aus dem er sich zu Beginn des nächsten Bildes durchnässt und verspottet wieder herauswuchtet, um zum „Ehi! Taverniere!“ anzusetzen, das, nun freilich melancholisch gebrochen, das „Va, vecchio John“ wieder aufgreift.
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Doch speziell in diesen Momenten mangelt es Keremidtchievs Falstaff bedauerlicherweise ein wenig an Nuanciertheit: Schon das „L’onore! Ladri!“, diese für einen Aristokraten erschütternd drastische, ja nihilistische Absage an jeden Ehrbegriff, ließ den Zynismus vermissen, der in diesem kongenialen Gegenstück zu Jagos abgründigem „Credo in un Dio crudel“ aus der dem „Falstaff“ vorangehenden, vorletzten Verdi-Oper, dem „Otello“, mitschwingen muss – auch ein Eifersuchtsdrama übrigens, aber eines, das, anders als der „Falstaff“, tragisch endet. Diese melancholischen Momente wären aber für die Modellierung der Falstaff-Figur darum so wichtig, weil der eitle Geck und Möchtegern-Schürzenjäger, der verlacht wird und über den der Zuschauer lacht, weil er seine Intelligenz und seine Attraktivität für die Damenwelt so offensichtlich sternenweit überschätzt, gerade in ihnen eine gewisse Tiefe und Dignität gewinnt, durch die die Komik transzendiert wird.
Wie man das besser macht, zeigte André Baleiro bei der großen Eifersuchtsarie des sich zu Unrecht betrogen wähnenden Ehemannes „É sogno o realtà?“ im zweiten Akt: Tiefe Verzweiflung, ohnmächtige Wut, die sich zu vernichtender Rachsucht steigert, klingt in seinem facettenreichen und voluminösen Bariton beim „sei gabbato e truffato“ („Ich bin hintergangen und betrogen“), wobei er wie wahnsinnig über die verdunkelte Bühne taumelt.
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Eine Freude durchweg: Einat Aronstein und Derek Rue als junges Liebespaar. Herzallerliebst, wie sie miteinander turteln und Blicke tauschen, gekonnt das Liebesduett des zweiten Aktes („Pst, pst, Nannetta“), gesungen mit jugendlich-virilem und doch feinfühligem Tenor von Rue, auf den Aronsteins Sopran mit kristallener Klarheit repliziert – und beim großen Liebeslied des dritten Aktes („Dal labbro il canto“) genauso. Dieses junge Paar ist ja kein Beiwerk, sondern von zentraler Bedeutung, weil in seiner Liebe eine Authentizität aufleuchtet, die im Vergleich zu Falstaffs bisweilen zynischem Hedonismus und Fords petit-bourgeoisem Besitz(stands)denken auf ein andres, freieres und hoffnungsvolleres Lebensideal hindeutet.
Dazu spielt das Philharmonische Orchester der Stadt Trier unter GMD Jochem Hochstenbach besonders die schwungvolleren Passagen der Partitur, etwa das Präludium zum dritten Akt, mit einem Elan, dem man die Spielfreude regelrecht anhört.
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Ein toller Opernabend, an dessen Ende bei der großen Schlussfuge („Tutto nel mondo é burla“) die vierte Wand durchbrochen und der Blick auf die Tiefe von Bühnenraum und -technik freigegeben wurde, so dass auch das Premierenpublikum einbezogen wurde in die heiter-ironische Weisheit, die am Ende des Lebenswerkes Verdis steht, nämlich dass die Welt doch voller Narrheit ist – eine durchaus weise Einsicht, die vielleicht helfen kann, etwas Distanz zu den Dingen zu gewinnen. Und vielleicht auch dabei, über sich selbst lachen zu können. Das soll ja manchmal über die Melancholie hinweghelfen.
weitere Termine: 21.10. (19.30 Uhr), 12.11. (16.00 Uhr) und 25.11. (19.30 Uhr)