Modernes Mysterienspiel: Strawinskys Oper „The Rake’s Progress“ am Theater Trier

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Auftritt von "Lady Baba": Einat Aronstein als Anne Trulove, Jana Vuletić als Baba the Turk und Derek Rue als Nick Shadow (im Vordergrund v.l.n.r.). Foto: Martin Kaufhold

TRIER. Ein furioser Auftakt zur neuen Saison: Am gestrigen Abend feierte Igor Strawinskys vielschichtige Oper „The Rake’s Progress“ am Theater Trier Premiere – eine exzellente Inszenierung, die diesem einzigartigen und vielschichtigen Klassiker der musikalischen Moderne vollauf gerecht zu werden vermag und musikalisch eine wahre Freude ist.

Von Alexander Scheidweiler

Ein „in vielerlei Hinsicht ungewöhnliches Werk, ein singuläres Werk“ nannte Dramaturg Malte Kühn Igor Strawiskys einzige abendfüllende Oper „The Rake’s Progress“ beim ersten Theatercafé des Theaters Trier heute vor einer Woche (lokalo berichtete). Gestern nun feierte das Unikum der Operngeschichte in einer Inszenierung von Mikaël Serre Premiere im großen Haus des Theaters, das mit dieser Premiere zugleich die neue Spielzeit eröffnete. Und was für ein Einstand für die neue Saison! Ein singuläres Werk, aber was für eines!

Im Grunde ist die Geschichte ja wohlbekannt, eine Faust-Geschichte im Kern: Ein junger Mann, Tom Rakewell, schließt einen Pakt mit dem Teufel, der hier unter dem Namen Nick Shadow auftritt. Er wünscht sich Geld, Glück und als großer Gönner der Menschheit bewundert zu werden, wobei Shadow ihm hilft – die genaue Bezahlung werde man später dann schon klären. Am Ende ist der Teufelspakt, wie zu erwarten, Rakewells Untergang – und er endet im Irrenhaus. Die äußerst turbulente Handlung des gut zweieinhalbstündigen Werks ist zum einen einem Bilderzyklus des englischen Moralisten und Kupferstechers William Hogarth aus dem frühen 18. Jahrhundert entlehnt, zum anderen basiert sie auf Ideen von Stawinskys Librettisten W.H. Auden und Chester Kallman, die u.a. die Figur des Nick Shadow einführten, die in den Stichen kein Vorbild hat und durch die die Handlung des „Rake“ etwas von einem Mysterienspiel gewinnt.

Anne Trulove (Einat Aronstein) und Tom Rakewell (Derek Rue). Foto: Martin Kaufhold

Zwischen hoffnungsfrohem Beginn des Protagonisten und seinem Ende in geistiger Umnachtung liegt eine emotionale Achterbahnfahrt von Liebe, Euphorie, Begehren, Verzweiflung und Wahnsinn, gewürzt mit so vielen mythischen Anspielungen, dass man auch meinen könnte, der T.S. Eliot des „Wüsten Landes“ oder der James G. Frazer des „Goldenen Zweiges“ hätte das Libretto verfasst. Auf dieser Textgrundlage hat Strawinsky als Höhe und Endpunkt seiner langen, neoklassizistischen Periode eine nicht minder anspielungsreiche Musik komponiert, die sich stark an den da Ponte-Opern Mozarts orientiert, v.a. an „Così fan tutte“ und „Don Giovanni“, die aber auch zahllose Zitate anderer Komponisten bis zurück zu Monteverdi einflicht, welche die das sehr gute Programmheft des Theaters Trier teilweise aufschlüsselt. Wer in die Klangwelten aus von cembalobegleiteten Secco-Rezitativen verbundenen Arien und Duetten eintaucht, könnte sich tatsächlich ins 18. Jahrhundert versetzt glauben, wöben nicht kleine harmonische und rhythmische Durchbrechungen hie und da ein musikalisches Fragezeichen in den makellosen, historistischen Klangteppich.

Wie wurde dieses in mehr als einer Hinsicht so besondere Werk nun in Trier umgesetzt? Ganz exzellent, kann man nur sagen! Dies beginnt schon beim opulenten Bühnenbild mit Video-Einspielungen von Sébastien Dupouey und Stella Sattler, das, besonders in den Szenen, die in Rakewells Haus in London spielen, die Möglichkeiten der Trierer Bühne voll ausnutzt, so z.B. wenn Rakewell, gesungen von Derek Rue, im Londoner Bordell von Mother Goose (Hélène Bernardy) im oberen Teil einer Simultanbühne die Sau rauslässt und schließlich mit der Puffmutter im glitzernden Silberbett landet, während ihre vom Opernchor verkörperten Jünger im Erdgeschoss ihr Bacchanal feiern, indem sie, in Lack und Leder gewandet, wild und lasziv abtanzen.

Der Bühnenhintergrund wird für großflächige, teils surreal wirkende Bildersequenzen genutzt, die die Handlung kommentieren, etwa wenn der von Shadow nur erfundene, verstorbene Erbonkel Rakewells als Ölbaron eingeblendet wird, oder auch nur, um mit dem Blick aus dem Fenster die Londoner City, in die Shadow Rakewell entführt hat, in Wandel der Jahreszeiten zu zeigen, was deshalb bedeutsam ist, da Shadow sich ausbedungen hat, Rakewell nach Jahr und Tag die Rechnung für seine Dienste zu präsentieren, die natürlich – man ahnt es – in seiner Seele bestehen wird. Hierhin, in die Londoner City, die in Serres Inszenierung zum Inbegriff eines vom flachem Hedonismus getriebenen Konsums und eines seelenlosen Kapitalismus wird, hat Shadow Rakewell mit falschen Versprechungen gelockt – weg von dem naturhaft-ländlichen Idyll des Beginns, weg von seiner mit dem sprechenden Namen Anne Trulove ausgestatteten, wahren Liebe, gesungen von Einat Aronstein.

Nach dem Bühnenbild ist der Strawinsky-Sound des Philharmonischen Orchesters der Stadt Trier zu loben, das unter der Leitung des ersten Kapellmeisters Wouter Padberg die zitatenreiche Musik so gekonnt zu spielen weiß, dass die zahllosen Allusionen und modernen Ironien sich gleichwohl als passgenaues Gewand schmeichelnd an einen Mozartianischen Musikkörper schmiegen. Strawinsky war ja ein Komponist, der das technische Können stets höher veranschlagte als den genialischen Funken – und das Trierer Orchester stellt dieses technische Können in hohem Maße unter Beweis, erfüllt die Musik aber dennoch zugleich mit pulsierender Lebensglut. Seine Begeisterung für Strawinskys Musik und sein tiefes Verständnis dafür, wo ihre schlagende Mitte liegt, hatte Padberg ebenfalls bereits beim Theatercafé aufscheinen lassen – bei der gestrigen Premiere untermauerte er es im Orchestergraben.

Diabolische Einflüsterungen: Nick Shadow (Daniel Carison, l.) redet auf Tom Rakewell (Derek Rue) ein. Foto: Martin Kaufhold

Weiter mit dem Schauspielerischen. Gerade dies ist bei einer Oper, deren Libretto von dem profunden Shakespeare-Kenner Auden maßgeblich verfasst wurde (Audens New Yorker Shakespeare-Vorlesungen, gehalten in etwa zu jener Zeit, als Strawinsky Hogarths Stiche bei einer Ausstellung in Chicago sah, wurden u.a. von Stephen Greenblatt, dem großen, alten Mann der Harvard-Literaturwissenschaft hoch gelobt) nicht trivial. Hier seien besonders Daniel Carisons Shadow und Jana Vuletićs Baba the Turk gelobt. Carison liefert einen Shadow, der zugleich verschmitzt und diabolisch wirkt: Einschmeichelnd als biederer Berater mit Priesterkragen, der ja nur das Beste für seinen Freund – so nennt er Rakewell tatsächlich gegenüber den Anhängern der Mother Goose – will; mit teuflischem Gelächter, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt, wenn er Rakewell wieder eine Flause in den Kopf gesetzt hat, etwa die Idee, Baba, die er nicht liebt, zu heiraten; allzeit betriebsam und scheinbar bemüht, ständig auf Achse und vermeintlich uneigennützig mit seinem E-Scooter unterwegs.

Vuletić indes spielt Baba herrlich affektiert, gewandet als Pop-Diva im Lady Gaga-Look. Tatsächlich mutiert die zweite Szene des zweiten Aktes, in der Anne, die sich besorgt auf die Suche nach ihrem Tom Rakewell begeben hat, diesen mit Baba auf der Straße vor seinem Londoner Haus abpasst, zum Auftritt eines Hollywood-Stars auf dem roten Teppich, in dem Baba, aus einer weißen Stretch-Limousine aussteigend, von jubelnden Fans begrüßt wird, die Schilder mit der Aufschrift „Lady Baba“ hochhalten. Schade nur, dass die Figur keinen Bart trägt – denn dass Baba als bärtige Dame auf der Bühne auftritt, ist ja gerade eine wichtige, grotesk-verfremdende Pointe des Heiratsplans, den Shadow Rakewell mit der meisterlichen Arie „Come, master, observe the host of mankind“ einflüstert. Hat der Teufel auf der Opernbühne je insinuatorischer, gleißnerischer, verschlagender geklungen als hier? Wohl kaum – noch nicht mal bei Gounod.

Tom Rakewell (Derek Rue, Mitte) ist dem Wahnsinn verfallen. Foto: Martin Kaufhold

Und schließlich der Gesang! Alle Beteiligten bringen eine große stimmliche Leistung, angefangen mit Karsten Schröter als Vater Truelove, dessen kraftvoller Bass wie ein Fels in der Brandung des Strawinsky’schen Zitatenozeans steht. Als im guten Sinne patriarchalischer Fürsprecher von Moral und Arbeitsethik artikuliert Schröter Trueloves Ermahnungen, der künftige Mann seiner Tochter Anne dürfe zwar arm und ehrlich, niemals aber faul sein, absolut überzeugend. Doch Rakewell hat andere Pläne und will sich lieber auf die wankelmütige Fortuna als auf seiner Hände – oder seines Hirns – Anstrengungen verlassen. Derek Rue singt den Protagonisten mit jugendlicher Kraft und Frische beim anfänglichen „Since it is not by merit“, dem selbstgewissen Hymnus des Glücksritters, der sich für unverwundbar hält, er vermag aber auch die abgrundtiefe Verzweiflung des Gescheiterten, der weiß, daß ihn jetzt der Teufel holen will, mit ergreifendem Vibrato vorzutragen, so wenn Rakewell das flehentliche „Shadow, good Shadow, be patient“ in der zweiten Szene des dritten Aktes in die öde Friedhofsnacht hinaussingt.

In Einat Aronstein hat Rue zudem die perfekte Anne Trulove an seiner Seite: Dass sie insbesondere für Rollen von mystischer Seelentiefe Händchen und v.a. Stimmbänder hat, hat sie als Sophie im „Rosenkavalier“ gezeigt (lokalo berichtete). Ahnend, das es mit dem Geliebten kein gutes Ende nehmen wird, verlässt Anne das stille „country cottage“ ihres Vaters und begibt sich auf eine Aventiure-Fahrt in das Londoner Sündenbabel, um ihn zu retten, so dass „The Rake’s Progress“ wirklich zu einer Art modernem Mysterienspiel wird, in dem Satan-Shadow und Immaculata-Anne um die Seele Rakewells streiten, wie der Teufel und die Heilige Jungfrau in einem Drama aus dem 15. Jahrhundert – wobei hier am Ende keiner von beiden zu triumphieren vermag. (Nur nebenbei: Später, in Strawinskys serieller Phase, hat sein Freund Robert Craft für die Textgrundlage des Sintflut-Oratoriums „The Flood“ tatsächlich auf die Chester Mystery Plays zurückgegriffen.) Hier zeigt sich erneut Einat Aronsteins Klasse: Am Ende des ersten Aktes, entschieden, Rakewell zu Hilfe zu eilen, kniet Anne nieder und betet für ihn („O God, protect dear Tom“), erhebt sich dann und singt entschlossen: „I go to him. / Love cannot falter“ etc. Bei Aronstein hat das Gebet eine schmelzende Innigkeit, der Entschluss eine Rein- und Klarheit des Klanges und dabei eine wuchtige Durchschlagskraft, die einfach beeindruckend sind.

Viel wäre noch zu sagen über dieses nicht doppel-, sondern musikalisch wie textlich drei-, vier-, fünfbödige Werk und die hervorragende Inszenierung, die das Theater Trier diesem Klassiker der musikalischen Moderne angedeihen lässt. Es mag genügen festzuhalten, dass alle Mitwirkenden sich die Standing Ovations zur Premiere mehr als verdient hatten. Das 20. Jahrhundert ist auf der Opernbühne ohnedies unterrepräsentiert – auch das ist ein Grund, sich „The Rake’s Progress“ anzusehen. Aber bei weitem nicht der einzige!

weitere Termine: 18.9., 18.00 Uhr; 7.10., 29.10., 29.11., jeweils 19.30 Uhr

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