Untergänge, Übergänge, Neuanfänge: Thomas Dannemanns „Untergang“ am Theater Trier

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Martin Geisen, Tamara Theisen und Luisa Braz Batista. Foto: Marco Piecuch

TRIER. Am gestrigen Mittwochabend feierte Thomas Dannemanns Stückentwicklung „Untergang“ am Theater Trier Premiere, uraufgeführt im Theatersaal der Europäischen Kunstakademie. Ein etwas anderes Stück, unkonventionell, nachdenklich und doch temporeich, das den Zuschauer auf einen fesselnden Parforceritt durch eine Geschichte der Untergänge, Übergänge und Neuanfänge mitnimmt, vom antiken Kreta bis zu den Verhandlungen von USA und UdSSR über die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands – und das dabei ganz nebenbei ein paar Schlaglichter auf Grundfragen des Menschseins wirft.

Von Alexander Scheidweiler

Am Ende liegt die Welt von Gestern am Boden. Nicht metaphorisch, sondern ganz dinglich. „Die Welt von Gestern“, die „Erinnerungen eines Europäers“, wie sie im Untertitel heißen, die Memoiren Stefan Zweigs, jenes großen Literaten, der, noch in der multinationalen, -konfessionellen und -lingualen Donaumonarchie sozialisiert, darin mit leiser Wehmut auf das Europa der Zeit vor der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zurückblickt. „Die Welt von Gestern“ ist eines von vielen Werken, die die „Stückentwicklung“ des Schauspielers, Autors und Regisseurs Thomas Dannemann mit dem Titel „Untergang“ inspiriert haben, die gestern in Dannemanns eigener Inszenierung Premiere und Uraufführung am Theater Trier erlebte, aufgeführt im Theatersaal der Europäischen Kunstakademie. Ein anderes Werk, bei dem „Untergang“ sich Anregungen holt, ist Cäsars „Gallischer Krieg“ – im Laufe des Abends landet auch dieser Klassiker auf dem Bühnenboden der Kunstakademie. Auch Cäsars so gerne im Lateinunterricht bemühte Schrift behandelt ja einen Untergang, nicht denjenigen des Europas des Fin-de-siècle wie bei Zweig, sondern denjenigen der keltischen Gallier, über deren Wiederentdeckung als nationalmythische Identifikationsfiguren im Frankreich des 19. Jahrhunderts man sich derzeit im Rahmen der Landesausstellung „Der Untergang des Römischen Reiches“ im Stadtmuseum Simeonstift anhand von zeitgenössischen Historiengemälden im wahrsten Sinne des Wortes ins Bild setzen kann.

„Die Welt von Gestern“ liegt am Boden. Foto: Alexander Scheidweiler

Auch Dannemanns „Untergang“ ist im Kontext der Landesausstellung entstanden, aber als ganz eigenständiges Werk, das den Begriff des Untergangs nicht allein auf das Römische Weltreich der Antike bezieht, sondern versucht, möglichst viele seiner Facetten zu beleuchten. Der Text der Stückentwicklung wurde von Dannemann gemeinsam mit dem Produktionsteam als work in progress nach und nach entwickelt, aus vielen Quellen schöpfend. Schon bei der Präsentation des „Untergangs“ im Rahmen des Theatercafés zu Beginn dieses Monats hatte Dramaturg Philipp Matthias Müller betont, dass der Theaterabend nicht einseitig negativ auf den Untergang als Ende schaue, sondern die Hoffnung immer mitschwinge (lokalo berichtete). Und was wäre besser geeignet als die beiden literarisch-historiographisch-memorialkulturellen Großwerke, die an diesem Theaterabend auf dem Boden landen – bzw. die Epochengrenzen, für die sie stehen – um die Ambivalenzen von Untergang, Übergang und Neuanfang, von Endgültigkeit und Vorläufigkeit, von Verzweiflung und Hoffnung, vom Blick zurück und nach vorne zu veranschaulichen, die Dannemanns Stückentwicklung auf so nuancierte Weise durchspielt und variiert?

Das Programmheft des Theaters Trier greift den Orpheus-Mythos auf, um die Frage zu stellen, ob „der Weg aus dem Untergang lediglich vorwärts führt“. Das Motiv des Voranschreitens und gleichzeitigen Zurückblickens, so zentral für die Orpheus-Gestalt, lebt ja auch in eminenter Weise in der Gestalt des nach England und später Brasilien emigrierten Stefan Zweig, der aus dem Exil zurückblickt auf die Welt von gestern, deren Reiz übermächtig und die doch unwiederbringlich verloren ist.

Und Cäsars „Gallischer Krieg“? Hier lohnt es sich, etwas genauer hinzuschauen. Drastisch holen die den ganzen Abend über in wechselnden Rollen agierenden Schauspielerinnen und Schauspieler Luiza Braz Batista, Martin Geisen, Manuel Krass, Philippe Thelen und Tamara Theisen den Cäsar’schen Schulbuchklassiker aus der historischen Angestaubtheit und comichaften Asterix-Verniedlichung: Der Gang in den Untergang beginnt in der Cäsar-Passage (aber auch „Passage“ heißt ja nur Vorüber- oder Hinüber-Gang, schreibt es sich doch vom französischen „passer“ her) des Untergang-Abends als Gang in die zunächst noch sanft rieselnde Weiße des Konfetti-Schnees, eines Schnees, von dem es anfänglich heißt, er bedecke Hunsrück, Mosel, Luxemburg und auch die Gefilde der Belger, jenes Volksstammes, der dem berühmten Einleitungssatz des „Gallischen Krieges“ (Generationen von Lateinschülern mussten ihn auswendig lernen) gemäß neben Aquitaniern und Galliern einen der drei Teile Galliens bewohnte.

Touristen-Plausch auf Kreta mit Philippe Thelen (links) und Martin Geisen. Foto: Marco Piecuch

Doch dann wird klar, dass der Gang durch den Schnee an diesem Premierenabend kein Winterspaziergang durch idyllische Ferienregionen ist: „Mauern aus Schnee“ werden bezwungen, Cäsars Legionen kämpfen sich durch die winterlich-unwirtlichen Cevennen, um den Aufstand des Vercingetorix niederzuschlagen, Gallien endgültig zu unterwerfen – eine blutige Angelegenheit, gar nicht so heroisch, sauber und wohlgestalt wie auf Historiengemälden des 19. Jahrhunderts oder so lustig wie in den Bildergeschichten des 20. und auch nicht so feinsinnig-ziseliert wie die ausgefeilte Stilistik der gedrechselten Perioden des Feldherren und Staatsmannes. „Nichts bleibt, wie es gewesen ist, wenn sich der Krieg plötzlich in dein Land wälzt“, sagt einer der Legionäre zu den Galliern, die bekanntlich mit einer Strategie der verbrannten Erde verzweifelt und letztlich erfolglos versuchten, der antiken Weltmacht zu trotzen: „Weil ihr uns nicht stoppen konntet, habt ihr die Städte angezündet.“ Rom wird sich nicht aufhalten lassen, denn: „Nur das Recht des Siegers kann dauerhaft für Frieden sorgen“, so die imperiale Ideologie, die im Laufe der Geschichte in vielen Permutationen wiederkehrt. Nach und nach türmen sich Leichen auf dem Schiebewagen, den die Schauspieler abwechselnd über den als Bühne dienenden Mittelgang des Theatersaals der EKA schieben, nach und nach mischt sich der Konfetti-Schnee mit dem (Kunst-)Blut der Opfer des Gallischen Krieges, der den Untergang der keltischen Gallier besiegelt, mindestens aber den Untergang ihrer politischen Eigenständigkeit.

Überhaupt: Der Wagen, der Besen und der Säulengang des Theatersaals sind als Requisiten und Spielort mit Bedeutung aufgeladen. Schon beim Theatercafé hatte Dannemann sinngemäß gesagt, dass mit dem Raum, der von ferne ein wenig an einen antiken Säulengang erinnert, gespielt werden solle, immer eingedenk des Faktums, das im Unter-Gang das Gehen steckt. Ständig sind die Darsteller unterwegs, sind Passanten auf der Lebensreise zwischen den beiden Metallunterständen an den Schmalseiten des Ganges, wo sie auch die meisten der zahllosen, schnellen Kostümwechsel vollziehen. Sie sind unterwegs, unterwegs in den Untergang, so wie das Kind, das ganz zu Beginn Philippe Thelen verkörpert, als er sich von Mama Luiza Braz Batista verabschiedet, auf den sich Lebensweg begibt. Das Unterwegs-Sein, Auf-dem-Weg-Sein, das für uns Menschen ja stets auf ein Ende zu-läuft, zu-geht, ein Ende, von dem wir nicht letztlich wissen (können), ob es Untergang oder Neuanfang ist, wird so zur großen, übergreifenden Bühnen-Metapher für die Conditio humana. Und so sind die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler ständig unterwegs, zu Fuß oder mit dem Schiebewagen, der auch schon mal zum Mietwagen wird, so wenn Thelen und Geisen sich als deutsche Touristen auf Kreta verfahren haben, wo sie sich dem umauthentischen Sirtaki-Getanze hingeben, der hüftsteif-oberflächlichen „Performance für Deutsche, die echtes Griechisch-Sein erfahren wollen“. Immer wieder auch werden mit großem Besen die nicht mehr benötigten Kostüme und Requisiten ausgekehrt, etwa nachdem aus Kreta Melos geworden ist und die spartanische Kolonie, wie bei Thukydides geschildert, von Athen ausgehungert und ausgelöscht, in den Untergang gezwungen wurde. Auch dies ein schrecklicher historischer Kehraus, doch zu den Paradoxien des Lebens gehört, dass es sich bisweilen so verhält, dass ohne Kehraus nichts Neues entstehen kann. Eine moralische Legitimation? Nein. Nur ein Phänomen, das drängt, in seinem So-Sein zur Kenntnis wahr- und ernstgenommen zu werden.

Leichenwagen des Gallischen Krieges mit Tamara Theisen. Foto: Marco Piecuch

Und so ist es auch, um auf das hier herausgegriffene Beispiel zurückzukommen, mit dem Gallischen Krieg: Der Untergang der Gallier ist Cäsars Triumph, ein Neuanfang, zumindest temporär. Sieges- und anderweitig trunken wird der Triumphator in Rom empfangen, wobei der Triumphzug in Dannemanns Stück die Form von Fangesängen aus den Fußballstadion annimmt: „Julius Cäsar, Julius Cäsar, Julius Cäsar, du bist der beste Mann!“ Der Triumph wird so zur Travestie eines machbesoffenen Bacchanals, das erneut mit einem Untergang endet: Blutig erdolcht Batista-Brutus den soeben noch als Gründervater Europas Gefeierten, bevor Dannemanns Parforceritt durch die Geschichte der Untergänge, Übergänge und Neuanfänge uns vom römischen Kapitol auf dasjenige in Washington versetzt, wo die Anhänger Trumps gerade dabei sind, „Stop the steal“ zu krakeelen und den Kongress zu erstürmen, ein rauschafter Ausbruch des Volkszorns, eine gewaltsame Eruption der aufgestauten negativen Emotionen der aus ihrer Sicht Zukurzgekommenen, die ihrer Wut auf die verhassten Eliten freien Lauf lassen: „Knock down the house“, skandieren die Darsteller, während sie rhythmisch-bedrohlich gegen einen der Metallunterstände an einer der Schmalseiten schlagen. Ist das schon der Untergang der Weltmacht? Ein Vorbote? Oder doch nur vorübergehender Theaterdonner, der sich alsbald wieder verflüchtigt? Wir wissen es (noch) nicht.

Das mag alles ein wenig kompliziert klingen, ist es aber gar nicht. Dannemanns „Untergang“ führt uns schlicht die große Konstante von Werden, Vergehen und Neuentstehen vor Augen, die das Leben in den großen historischen Dimensionen ebenso prägt wie in den privaten Vollzügen und Beziehungen. Insofern ist das Stück sehr einfach und zutiefst human. Dabei wird allerdings ein großer Bogen gespannt, der ganz am Anfang der europäischen Geschichte beginnt, auf Kreta, wo die erwähnten Touristen sich verfahren haben und über das Kommen und Gehen von alten Griechen, Byzantinern, Osmanen, Venezianern etc. auf derjenigen Insel sinnieren, auf der Gaia dem Mythos zufolge den Knaben Zeus verborgen hatte, und der auf einem Flugzeugträger endet, wo die dem Untergang geweihte Sowjetunion mit den auf dem Gipfelpunkt ihrer Macht angelangten USA über die mögliche NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands verhandelt. Dabei widersteht Dannemann der Versuchung, eine Geschichtsphilosophie zu entwickeln, die erfahrungsgemäß immer die Gefahr in sich birgt, ins Starre und Schematische, wenn nicht gar Ideologische abzugleiten. Die Untergänge gelangen zur Darstellung, sie werden kommentiert, sie bilden geradezu einen dramatischen Mahlstrom von hypnotisch-magnetischer Faszination, so dass man am Ende der Vorstellung kaum glauben mag, dass tatsächlich bereits zwei Stunden verflossen sind. Aber, und das ist wichtig, was all die Untergänge, Übergänge, Neuanfänge letztlich bedeuten, ob dahinter überhaupt ein Sinn steht, diese Frage entscheiden Dannemann und sein Team nicht, diese Frage geben sie dem Publikum mit. Der Verzicht auf das ganz große Narrativ ist eine ganz große Stärke der Stückentwicklung.

Der einfache, fast spartanische Säulengang des Theatersaals der Europäischen Kunstakademie bietet in der Tat den beinah idealen räumlichen Rahmen, um dieses Spiel des und mit dem Unterwegs-Sein zu spielen, von Anne Kaftan und Manuel Krass auch musikalisch umrahmt, von schnellen Rollen-, Kostüm- und Szenenwechseln getaktet. Den Schauspielern verlangt dies zweifellos mehr ab, als das Spiel auf Basis eines traditionellen Dramentextes mit klar festgelegten Rollen. Sie bewältigen diese Herausforderung aber allesamt überzeugend, am überzeugendsten aber, charismatisch und mit hoher Intensität, Luiza Braz Batista.

Eine Runde Sirtaki. Foto: Marco Piecuch

Ihr ist es auch vorbehalten, zwischen der schauerlichen Schilderung der Ermordung des faschistischen Diktators Mussolini mit seiner Geliebten Clara Petacci und dem schwerterklirrenden „Haßgesang gegen England“ Ernst Liessauers aus dem Ersten Weltkrieg, der Zweigs geliebte „Welt von Gestern“ in Stahlgewittern in Stücke schoss, monologisch ein paar Existenzialien durchzudeklinieren: „Ich bin ein Trier. Du bist ein Tier. […] Ein Tier, dem man seine Lage erklären muss.“ Der Mensch, das riskierte, das instinktmäßig unterdeterminierte Mängelwesen, es braucht Orientierung, weil es immer weitergehen muss, obwohl es nicht von selbst weiß, wohin und warum – „weil das merken wir ja, das wir leben. Aber nicht, wozu.“ Darum muss es stets darum gehen, „einen Boden her[zu]stellen, auf dem wir weitergehen können, weitergehen müssen.“ Umwerfend, mit welcher Eindringlichkeit, mit welcher Unwiderstehlichkeit und Endgültigkeit Luiza Braz Batista diese anthropologischen Grundtatsachen ganz lakonisch ausspricht. Auch wie sie bei den Gesprächen zwischen Sowjets und Amerikanern als taffe Verhandlerin, höflich, aber kraftvoll und mit gebieterischer Bestimmtheit, die US-Position vorträgt, ist hervorragend! Sitzt da noch eine Schauspielerin oder doch schon eine Madeleine Albright oder eine Condoleezza Rice?

„Untergang“ ist ein etwas anderes Stück, unkonventionell, nachdenklich und doch temporeich. Der Wirbel der Ideen und der Bilder, die im Kopf entstehen, ohne dass große bühnentechnische Mittel eingesetzt würden – abgesehen von einer ausgefeilten Lichtregie – zieht den Zuschauer hinein in den Reigen der Untergänge, Übergänge und Neuanfänge. Auch die kammerspielartige Räumlichkeit in der EKA und die damit einhergehende, unmittelbare Nähe des Publikums zu den Schauspielerinnen und Schauspielern trägt viel zur Dichte der Atmosphäre bei, der man sich nicht zu entziehen vermag. Als einziger Kritikpunkt sei angemerkt, dass „Untergang“ vielleicht insgesamt doch ein wenig zu verliebt ist in die großen weltgeschichtlichen Wendepunkte, dass man der Frage, welche Untergänge Menschen im Privatleben erfahren und wie sie damit umgehen, etwas mehr Raum hätte einräumen können, vielleicht müssen. Dennoch sei der Besuch des „Untergangs“ wärmstens empfohlen.

weitere Termine: 4.10., 18.11. und 24.11., jeweils 19.30 Uhr

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