++ Lokalo-Exklusiv: „Mein Jahr in Büchern“ – der literarische Jahresrückblick von Florian Valerius (Teil 2) ++

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Florian Valerius

TRIER. Florian Valerius, geboren in Trier, hat seinen eigenen Weg gefunden, Menschen zum Lesen zu bringen. 2016 rief er den Instagram Account @literarischernerd ins Leben und ist heute mit über 21.000 Followern der erfolgreichste Buchblogger Deutschlands – er nutzt #bookstagram als modernen und authentischen Weg, um Menschen und Literatur zusammenzubringen. Valerius wurde dafür mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht und sitzt u.a., auf Bitten des Bundeskanzleramts, in der Jury des Deutschen Verlagspreises.

Seine Leidenschaft lebt er auch täglich in der analogen Welt aus, denn Valerius ist seit 2004 Buchhändler mit Leib und Seele und mittlerweile Filialleiter der Universitätsbuchhandlung Stephanus in Trier.

Für lokalo.de war Florian so nett, einen ganz persönlichen literarischen Jahresrückblick zu erstellen. Seine eigenen Jahreshighlights mit Herz und Verstand – eine Anregung für alle Leser*innen und diejenigen, die es noch werden wollen:

Mein Jahr in Büchern, von Florian Valerius (Teil 2)

Juli:

Müsste ich diesen Roman in einem Satz beschreiben, würde ich wohl sagen: „Der beste Roman über das Scheitern einer Ehe seit Anna Karenina!“ „Der Anhalter“ von Gerwin van der Werf, übersetzt aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas, erschienen bei S. Fischer. Tiddo fährt zusammen mit seiner Frau Isa und Sohn Jonathan nach Island. Sie haben sich ein Wohnmobil gemietet und wollen einen Roadtrip machen – für die beiden Erwachsenen ist es der letzte Versuch die Ehe zu retten, die seit längerem im Argen liegt. Unterwegs nehmen sie einen Anhalter mit – ein junger Kerl, tätowiert, ein wenig mysteriös und ziemlich sexy, der sich so nach und nach in das Leben der Familie hineinschleicht und irgendwann mich mehr gehen will. Was dann alles passiert, entwickelt sich zum coolsten Psychothriller des Sommers – ich wollte einfach nur wissen: Was ist in dieser Familie vorgefallen? Warum sind die alle so? Was führt der Anhalter im Schilde? Und wohin führt diese absolut bitterböse und unangenehme Geschichte voller Antihelden? Ich habe das Buch an zwei Abenden aufgefressen, konnte es nicht aus der Hand legen und konnte nebenbei in Gedanken durch Island gereist. Absolute Leseempfehlung!

https://www.fischerverlage.de/buch/gerwin-van-der-werf-der-anhalter-9783103974669

HIER GEHT ES ZUM ERSTEN TEIL DES LITERARISCHEN JAHRESRÜCKBLICKES

August:

Ich mag ja eigentlich keine „lustigen“ Bücher – fragen Kunden nach so etwas, graust es mir. …und dann kommt da plötzlich Ilona Hartmann und bereitet mir die drei schönsten, witzigsten, leichtfüßigsten und bewegendsten Lesestunden dieses tristen Sommers. Jana bucht eine Kreuzfahrt von Passau nach Wien. Das Schiff ist wenig glamourös, die Donau nicht wirklich blau, die restlichen Passagiere (gefühlt) 5 mal so alt. Der Grund für diese Schifffahrt ist ein besonderer: der Kapitän ist Janas leiblicher Vater (den sie nie kennenlernen durfte). Was nun folgt, sind viele wahnwitzige, urkomische Szenen an Bord: Jana trifft auf skurrile Rentnerehepaare, trinkfeste Bordbesatzung (Bob! Paillettenjacke! Melodica!) mit absurden Biografien -und offenbart sich letztendlich ihrem Vater (der sie wohl eigentlich gerne abschleppen würde ). Und eben jene sensible, berührende Annäherung hebt das Buch auf eine ganz besondere Ebene. Authentisch, nachvollziehbar und sehr sehr ehrlich ist Janas Lebensgeschichte, die immer wieder eingestreut wird – und auch die große Angst vor diesem Mann, der nie für sie da war. Der ihr Leben dadurch beeinflusst hat. Jana gewinnt am Ende ihrer Reise einige Erkenntnisse – der Leser/die Leserin hat währenddessen viel geschmunzelt, herzhaft gelacht (was ich sehr wertschätze: NIE über die Figuren!), mitgefiebert – und sicherlich auch das ein oder andere Tränchen verdrückt. (Ich zumindest – True Story) Also Leute, wenn ihr für ein paar Stunden den Alltag vergessen wollt (und Sätze zum niederknien entdecken wollt): Lest dieses Buch. Sofort. Danach fühlt ihr Euch besser, leichter. Ja, beglückt. Versprochen. Ich weiß jetzt jedenfalls, was ich meinen Kunden empfehle, wenn sie etwas lustiges suchen! „Land in Sicht“, erschienen bei Blumenbar.

https://www.aufbau-verlag.de/index.php/land-in-sicht.html

September:

Wer in Zeiten wie diesen ein wenig Eskapismus gebrauchen kann, dem empfehle ich hiermit von Herzen: „Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens“ von Tom Barbash- übersetzt von Michael Schickenberg, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Ich habe das Buch in zwei Tagen aufgefressen, bin tief hineingetaucht, in das pulsierende New York City des Jahres 1979. Der berühmte Late-Night-Show Moderator Buddy Winter erlitt einst vor der Kamera einen Nervenzusammenbruch. Nun arbeiten alle daran, insbesondere sein Sohn Anton, ihm zu einem Comeback zu verhelfen. Es wird ein aufregendes, verrücktes Jahr für die chaotische, liebenswerte Familie Winter, die im berühmt-berüchtigten Dakota Building lebt. Einer ihrer Nachbarn: John Lennon -welcher eine nicht unbedeutende Rolle beim Comeback Buddys spielen soll. Leute! Was für ein Buch. Ich habe mir gewünscht, es würde nie enden. Ich habe mir gewünscht, ein Teil dieser Familie sein zu dürfen. Der Geist von John Irving liegt über diesem Roman – skurril ist er, unglaublich witzig, charmant und: voller Herz. Durchzogen aber auch von Melancholie und dem Wissen, dass die Dinge sich ändern werden & eine neue Zeit anbrechen wird. Barbash lässt ein buntes, lebendiges Panoptikum vor den Augen seiner Leser*innen auferstehen – angefüllt mit Zeitgeschichte, Popkultur und Politik. Er verwischt die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, lässt Familie Winter auf reale Persönlichkeiten -Schauspieler, Politiker, Sportler- treffen. Im Kern aber ist es die schönste Vater-Sohn Geschichte, die ich seit Langem gelesen habe. Eine Geschichte über Abnabelung, Vorbilder, Selbstbestimmung und „seinen eigenen Weg finden“. Eine Geschichte über Anfänge, Neuanfänge, Abschiede. Und über das, was Familienbande bedeuten. Ein Roman, dem ich massenhaft Leser*innen wünsche. Ein Roman, dessen Protagonisten ich vermisse, weil ich sie alle so dermaßen ins Herz geschlossen habe. …und was kann man bitte schöneres über eine Lektüre sagen?

https://www.kiwi-verlag.de/buch/tom-barbash-mein-vater-john-lennon-und-das-beste-jahr-unseres-lebens-9783462053111

Oktober:

Was für ein Schatz! „Manchmal hilft nichts anderes, als das gesamte Leben in eine mit Blaubeeren gefüllte Badewanne hineinzuweinen.“ „Herr Rudi“ ist Gerichtsvollzieher -zwei Tage vor der Pensionierung, als er erfährt, dass er Krebs hat. Schlamassel. Als wir ihn kennenlernen, sitzt er in einem Hotelzimmer, hat einen Hexenschuss und eine Badewanne voller Blaubeeren – und eine Pistole auf dem Nachtschrank. Auf den ersten Seiten dachte ich noch: Ja eh, nette Geschichte. Und dann, plötzlich, sprang der Funke über: Nun bin ich restlos verliebt in Herr Rudi, dieses knurrige Menschenwesen. Aber auch in die Livi, seine viel zu früh verstorbene große Liebe und in den Fritz, seinen besten Freund. (Die Kennenlerngeschichte!!! Ihre Gespräche!) Mittlerweile glaube ich, die Österreicher sind definitiv die besseren Menschen. Anna Herzig hat hier eine Geschichte vorgelegt, die unaufgeregt und leicht daherkommt, aber umso krasser tief ins Herz der Leser*innen trifft. Ich glaube, die Deutschen können das irgendwie nicht SO – hier wird Schmäh gesäht, es wird gegrummelt – aber doch menschelt es zutiefst, steckt in jeder Tat, in jeder Bewegung und Geste Liebe. Und das vollkommen kitschbefreit. Vergesst den kleinen Prinzen, lest Anna Herzig! Sofort! Erschienen bei Voland & Quist.

https://www.voland-quist.de/buch/?300/Herr+Rudi–Anna+Herzig

November:

Die unmittelbare Zukunft: Nahezu alle Tiere sind ausgestorben. Schuld ist der Mensch. Die Ornithologin Franny schließt sich der Crew eines Fischerbootes an, um den letzten Küstenseeschwalben zu folgen. Am Ende des Buches werden alle Leser*innen die eigenwillige, wütende, ungestüme Frau tief in ihr Herz geschlossen haben. Sie werden mitleiden, wenn sich nach und nach und Schicht für Schicht ihre Lebensgeschichte offenbart. Und ihr Herz wird brechen, wenn die getriebene Franny das Ziel ihrer Reise erreicht. „Zugvögel“ von Charlotte McConahy (übersetzt von Tanja Handels), erschienen bei S.Fischer, ist ein absoluter Pageturner – clever erzählt ist er, mitreißend! …und voll von Charakteren, die man sofort liebt. Die Naturbeschreibungen sind atemberaubend- die wilde, tosende See ist für mich die heimliche Hauptfigur dieses wunderbaren Abenteuerromans.

https://www.fischerverlage.de/buch/charlotte-mcconaghy-zugvoegel-9783103974706

Dezember: Zeit für meine drei ultimativen Jahreshighlights!

Vollkommen beseelt habe ich „Bären füttern verboten“ von Rachel Elliott beendet. Das Buch ist im Mare Verlag erschienen und wurde übersetzt von Claudia Feldmann. Sidney ist Freerunnerin und an ihrem 47. Geburtstag reist sie nach St.Ives. Einen Ort, den sie seit über 30 Jahren meidet, weil sich dort ihr Leben für immer verändert hat. Etwas schreckliches ist dort passiert, das Sydney bis heute verfolgt. Dies klingt jetzt schrecklich bedrückend – und ja, es ist ein Buch über Trauer, Traumata, Trennung und Verlust. Aber: Es ist auch das charmanteste, liebenswerteste, witzigste und tröstlichste Buch, das ich bisher zu diesem Thema gelesen habe. Warm ist es. Und zutiefst menschlich. Elliott lässt ein Feuerwerk an skurrilen Charakteren auf ihre Leser*innen los – Hipster Buchhändler Dexter, der auch mal gerne Frauenkleider trägt, seine Kollegin Belle, die nur I?Otter-Shirts trägt, Maria, Zahntechnikerin, die heilende Muffins zubereiten kann, Jason, der Olivia Newton-John liebt, Howard – Howard!!!!, Sidneys Vater, der … ach, entdeckt das doch bitte alles selbst! Mit den Kapitelüberschriften angefangen, über die Szenen, die aus Sicht eines Hundes geschrieben sind, bis hin zum Toten in der Bettenabteilung eines Kaufhauses (Sydneys erste Begegnung mit dem Tod) – alles ist perfekt komponiert in diesem Traum von einem Roman. Erinnerungen an Mariana Leky und „Die fabelhafte Welt der Amélie“ wurden wach, als ich diese Geschichte über Heilung und Neuänfange inhalierte. Elliott kennt die Menschen ganz genau- das Buch steckt voll von klugen Beobachtungen des Alltags und liefert Lebensweisheiten in jedem Kapitel. Lebensweisheiten, die poetisch sind – und wahr. Am liebsten hätte ich mir alles daraus notiert. Ein geniales Buch. Lest es, liebt es, verschenkt es – es wird Euch alle glücklich machen. Und beweist: Es ist nie zu spät, sein Leben auf die Reihe zu kriegen und es SO zu leben, wie man möchte.

https://www.mare.de/baren-futtern-verboten-8624

„Alte Sorten“ von Ewald Arenz ist für mich ein absolutes Jahreshighlight! Was für ein großartiges Buch, was für eine wunderschöne Geschichte! Im Weinberg trifft die Bäuerin Liss auf die 17 jährige Sally. Sie nimmt die Ausreißerin mit und gewährt ihr einen Unterschlupf auf ihrem Hof. Beide Frauen sind voller Zorn – und nach und nach erschließt sich uns Lesern, was den beiden Frauen in ihrem Leben widerfahren ist. Alles an diesem Buch ist eine Wucht. Eine Wucht voller Schönheit, Poesie und Empathie. Mitzuerleben, wie diese beiden Frauen sich zaghaft annähern, geht komplett unter die Haut. Mitzuerleben, wie ein Miteinander entsteht, ein Miteinander zwischen zwei Menschen, die daran gewöhnt sind, alleine für sich zu kämpfen (und zu überleben), geht komplett unter die Haut. Die Rückschläge, die Verletzungen- all das können wir unfassbar gut nachvollziehen, nachspüren. Dazu all die Naturbeschreibungen! Der Hof, die Kartoffelernte, das Imkern, frischgebackenes Brot, Salz – und natürlich: der Geschmack von Birnen. Das Gefühl, wenn der Körper den ganzen Tag gearbeitet hat, wenn dir die Septembersonne warm ins Gesicht scheint und morgens der Nebel über den Feldern liegt. Das mag nun kitschig klingen – ist es aber nicht. Überhaupt nicht. Dafür ist das Buch zu realistisch (und scheut sich auch nicht, davon zu erzählen!). Ich kann schwer in Worte fassen, was das Buch mit mir angestellt hat – aber „Balsam für die Seele“ kommt dem schon sehr, sehr nahe. Ein kluges, warmes, ehrliches, berührendes Buch, irgendwo zwischen Robert Seethaler, Benjamin Myers und Mariana Leky anzusiedeln. Nahezu genial, wie Ewald Arenz sich in seine beiden Heldinnen hineindenken und -fühlen kann. Ich bin schwer beeindruckt und ziehe meinen Hut. Ich bin verliebt in Liss und Sally – und plädiere für eine Fortsetzung! Lieber Dumont Verlag, wie machst du das immer nur, solche Schätze zu finden? Bücher, die seinen Leser*innen einfach nur gut tun&glücklich machen. Danke von Herzen dafür.

https://www.dumont-buchverlag.de/buch/arenz-alte-sorten-9783832184483/

„Es gab Sehnsucht nach etwas, das verloren war, Sehnsucht nach etwas, das sich nicht erfüllt hatte, Sehnsucht danach, etwas zu finden, und manchmal auch danach, etwas zu verlieren“ – „Die Unschärfe der Welt“ von Iris Wolff erzählt die Geschichte einer Familie aus dem Banat (historische Region in Südosteuropa, die heute in Rumänien, Serbien und Ungarn liegt) über 4 Generationen hinweg. Es ist eine Geschichte von Liebe, Verlust, Trennung und Tod. Wolff hat mich tief berührt und Figuren erschaffen, die ich von Herzen liebe. Florentine, Sana – großartige, starke Frauen bevölkern diesen Roman. Eine Geschichte voller Empathie – zart, zerbrechlich und doch auch ein wenig spröde manchmal. Genau so, wie ich es mag. Eine Geschichte, die davon erzählt, wie stark die Bande von Liebenden, von Familie und von Freundschaften sein können. Auch wenn sie durch Grenzen und große Distanzen auf die Probe gestellt werden. Es fällt mir schwer in Worte zu fassen, wieso mich der Roman so berührt hat. …unbedingt erwähnenswert ist auch die Erzählstruktur des Romanes: Mit jedem Kapitel wechselt die Hauptfigur und die Zeitebene – und somit auch der Erzählton. So wird jedes Kapitel für sich schon zu einem kleinen Meisterwerk. Interessant ist auch der historische Hintergrund, der unaufgeregt in die Geschichte eingebettet wurde. Für mich ein echtes, großes Herbsthighlight – vollkommen verdient und zurecht auf auf der Longlist für den Deutschenbuchpreis. Mein Favorit der Herzen! Unbedingt lesen. Erschienen bei Klett-Cotta.

https://www.klett-cotta.de/buch/Gegenwartsliteratur/Die_Unschaerfe_der_Welt/117319

Viel Spaß beim Lesen und Entdecken. Unterstützen Sie beim Kauf bitte Ihren lokalen Buchhandel. #buylocal
Florian Valerius

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