LUXEMBURG. Die belgische Tanzkompanie „Peeping Tom“ hat unter der Leitung des Choreographen Franck Chartier eine stark modifizierte Fassung der Barockoper „Dido and Aeneas“ von Henry Purcell geschaffen, die Oper, Schauspiel und Tanztheater vereint. Gestern wurde die Koproduktion der Opéra de Lille und des Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg in der Grande Salle des letzteren zur Aufführung gebracht.
Von Alexander Scheidweiler
Dass der Orpheus Britannicus Henry Purcell auf den Schultern des Schwans von Avon stand, dürfte bekannt sein – seine „Fairy-Queen“ (1692) nach „A Midsummer Night’s Dream“ oder „The Tempest“ (1695) nach dem gleichnamigen Shakespeare-Stück legen davon Zeugnis ab. Der Stoff von Purcells einziger Vollblut-Oper „Dido and Aeneas“ aus dem Jahre 1689 ist nun offensichtlich nicht Shakespearianisch, gleichwohl sind auch hier die Reminiszenzen unübersehbar, wenig überraschend, ist Purcells Librettist Nahum Tate neben seiner bis heute im anglikanischen Kirchengesang gebräuchlichen Psalmenübertragung auf der Insel v.a. als Bearbeiter des „King Lear“ in Erinnerung geblieben, dem er in seiner bis ins 19. Jahrhundert gern gespielten Fassung ein Happy End verpasste. Erstere, also die Psalmenübertragung, verfasste er übrigens gemeinsam mit dem Komödienautor Thomas Shadwell, der seinerseits für Purcell das Tempest-Libretto schrieb. So schließen sich Kreise.
Jedenfalls ist es sicherlich kein Zufall, dass die Hexenszene zu Beginn des zweiten Aktes der „Dido“ doch stark an Macbeth gemahnt. Und bei so viel Shakespeare-Reminiszenzen ist’s dann auch zunächst mal ein naheliegender Gedanke, der Oper mit einem Shakespeare-Stilmittel zu Leibe zu rücken und zu versuchen, sie als Spiel-im-Spiel für das moderne Publikum zu aktualisieren. Genau diesen Weg geht die belgische Tanzkompanie „Peeping Tom“ unter der Leitung des Choreographen Franck Chartier mit dessen Inszenierung, die Oper, Schauspiel und Tanztheater verbindet. Am 2. Mai 2021 am Grand Théâtre de Genève uraufgeführt, wurde die Koproduktion der Opéra de Lille und des Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg am gestrigen Abend in der Grande Salle des letzteren zur Aufführung gebracht.
Der neu hinzugefügte und parallel laufende Rahmen spiegelt die Handlung der Purcell-Oper in eine unbestimmte Zeitebene: Das Bühnenbild zu Beginn hat etwas Viktorianisches, einen kleiner Hauch von „Downton Abbey“ macht sich breit, wenn die Schauspielerin Eurudike De Beul, die Rahmen-Dido, sich aus den zahlreichen Laken ihres Bettes hervorarbeitet, umringt von ihren Dienern, den Tänzerinnen und Tänzern von Peeping Tom, in schwarze Anzüge und Röcke gewandet. De Beuls Rahmen-Dido – reiche, gealterte und vom Leben enttäuschte Königin, überbeansprucht von repräsentativen Pflichten, in Erinnerungen an bessere, aber längst vergangene Zeiten schwelgend – empfängt den Rahmen-Aeneas (Romeu Runa), der in Chartiers Welt als Kriegsflüchtling mit einem kleinen Sohn zu ihr kommt, in ihre Dienste tritt und zur Projektionsfläche ihrer ungestillten Begierden wird.
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Zugleich wird der Chartier’schen Rahmen-Dido zum wiederholten Male die Purcell-Oper „Dido and Aeneas“ vorgespielt, in ihrem Wohnzimmer gewissermaßen, so dass die beiden Spiel-Ebenen sich wechselseitig aufeinander beziehen und einander durchdringen. In einem im Programmheft enthaltenen Gespräch mit der Dramaturgin Clara Pons hebt Chartier die Zentralität des Kunstgriffs hervor, dass die Schweizer Mezzosopranistin Marie-Claude Chappuis zugleich die Binnen-Dido wie auch die Zauberin singt, die Didos Untergang herbeiführt. Daran werde der Aspekt der „Auto-Destruktion“ der Titelheldin deutlich, deren Ängste sich in „Ressentiments, Aggressivität, Ausbrüchen des Leidens, des Hasses und der Streitsucht“ Bahn brächen. Hinsichtlich der Musik erklärt der Choreograph und Regisseur, man habe sie „zugleich verstärken und brechen“ wollen, „als ob sie dem Denken einer Figur folge“.
Diesen Prämissen gemäß ist eine stark psychologisierende und psychopathologische Dido herausgekommen, in „einem bedrückendem Ambiente“, für das Chartier sich auf die unbestreitbar in weiten Teilen ausgesprochen düster-dissonanten Klangwelten des vor zwei Jahren verstorbenen Krzysztof Penderecki beruft, der u.a. die Filmmusik zu Andrzej Weidas verstörendem Historienfilm „Das Massaker von Katyn“ über die Massenerschießung polnischer Kriegsgefangener durch sowjetische Truppen im Zweiten Weltkrieg komponierte.
Und so kommandiert De Beuls Rahmen-Dido denn auch in herrischer Manier ihre Diener herum, phantasiert anzüglich über den muskulösen Leib ihres ersten Mannes Sychaeus – sein Portrait hängt noch immer über ihrem Bett – den sie „wie ein Schiff gesegelt“ habe, während sie ihn in anderen Szenen abgründig als „pädophilen Dreckskerl“ bezeichnet. Sie schwelgt in Erinnerungen an ihre abgeblühte Schönheit, hält Rodomontaden über ihr einstmals glanzvolles Leben und sehnt sich nach dem deutlich jüngeren Aeneas, ohne ihn doch emotional an sich heranzulassen. Schließlich stößt sie ihn in die Arme ihrer Dienerin Marie (Marie Gyselbrecht), mit der Aeneas dann unter dem Porträt Sychaeus’ den Akt vollzieht, zu dem sie emotional nicht mehr in der Lage ist. Zwischendurch hält sie eine Rede im Parlament, das vom Chor verkörpert wird, der auf einer Empore sitzt, deren Optik vage an das britische Unterhaus erinnert. Von dort aus sehen die Sänger/die Abgeordneten dem Geschehen ununterbrochen zu, so dass deutlich wird, dass Dido als völlig öffentliche Person in ihrer Königinnen-Rolle gefangen ist, ohne die ersehnte (erlösende?) Privatheit und Intimität.
Chartier lässt so ein vielschichtiges Psychodrama irgendwo zwischen Strindberg, Beckett und Tennessee Williams entstehen, das zweifellos hochinteressant, aber mit den Schönheitsfehlern behaftet ist, wenig mit Purcells Oper zu tun zu haben und diese in der Aufführung völlig zu überlagern. Gewiss: Der Vergil’schen Vorlage gemäß begeht Dido bei Purcell am Ende Suizid, und ja, Belinda (Emöke Baráth) fordert sie, angesichts ihrer melancholischen Stimmung, eingangs auf „Shake that cloud from off your brow“, worauf Dido mit dem „Ah! Belinda, I am prest / With torment not to be confest“ erwidert. Allein ein gar so manisches, liebesunfähiges, von Ängsten zerfressenes Wrack wie bei Chartier ist die Dido von Purcell/Tate dann doch nicht, zumal es nicht ihre Bindungsangst – eine doch sehr moderne Kategorie, die dem Barock ohnedies so fremd ist wie der Antike – sondern die Mächte des Schicksals sowie die Intervention des Numinosen in Gestalt der Zauberin und ihrer Hexen-Entourage sind, die Aeneas hinfort und Dido in den Suizid treiben.
Für den heutigen Betrachter ist es verführerisch, dies psychologisch zu lesen und damit in eine Denke zu übersetzen, die, aller Düsternis zum Trotz, der Zeitgeist leichtlich einzuschlürfen und unter einer Vielzahl psychologisierender Deutungen diverser Werke der doch recht langen prä-freudianisch-jungianischen Kulturgeschichte Europas mitzuschubladisieren vermag – eine interessantere und jedenfalls werktreuere Lesart hätte aber darin bestehen können, das Kosmologische und Magische der Purcell’schen „Dido“, für deren symbolisch-psychologische Deutung Tates Libretto keine Grundlage bietet, in ihrer Andersartigkeit herauszupräparieren und das Publikum genau damit zu konfrontieren, zumal gerade die Diskurse von Melancholie und Heiterkeit in der Frühen Neuzeit eminent kosmologisch aufgeladen sind.
In diesem Zusammenhang ist der optisch beeindruckendste Zug der schrittweisen Transformation des durchaus opulent zu nennenden Bühnenbildes – ungeheuere Sandmassen, die nach und nach die Bühne füllen, indem sie aus Fenstern, Bücherregalen und Wandlöchern in den Bühnenraum hineinquellen oder von der Decke herabrieseln – wohl als Versuch zu werten, mit dem solcherart rieselnden Sand der Zeit, in dem De Beul nach und nach zu Ertrinken droht, an die im Barock allgegenwärtige Vanitas-Thematik anzuschließen und somit der Ursprungsepoche des Werkes ein wenig Ehre angedeihen zu lassen. Doch wenngleich Knochenmänner und Vergänglichkeitspoesie unbestreitbar zum ästhetischen Grundinventar des europäischen Barock gehören, so ist doch die Purcell’sche „Dido“ nicht unbedingt ein Paradebeispiel dafür.
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Insbesondere auf der musikalischen Ebene zeugt Purcells Werk vielfach von nachgerade höfischer Festfreude und aristokratischem Lebensgenuss: So wenn der Chor den ersten Akt mit „When monarchs unite“ eröffnet und mit „To the hills and the vales“ beschließt, wo es heißt: „Go revel, ye Cupids, the day is your own.“ Überhaupt: Purcells Musik! Sie gerät gegenüber dem düster-überladenen Rahmen fast ins Hintertreffen, was aber keineswegs an dem exzellenten Orchester des Barock-Ensebles „Le Concert d’Astrée“ im Orchestergaben liegt, das sowohl die zart-empfindsamen wie auch die festlich-prunkenden Teile der Partitur versiert vorzutragen weiß.
Und auch die Sänger haben sich ein Lob verdient: Während der amerikanische Bariton Jarrett Ott nicht nur physisch, sondern auch stimmlich einen kräftigen, heroischen Aeneas zu geben weiß, bewältigt Marie-Claude Chappuis die Doppelrolle der Dido und der Zauberin mit Bravour, v.a. im Streit-Trio des dritten Aktes „See, Madam, where the Prince appears“, wenn sie Aeneas die Leviten liest („No, faithless man, thy course pursue“), zeigt sie stimmlich, was sie kann. Schade nur, dass nicht nur die Handlung der Oper durch den düsteren Rahmen, sondern auch die Purcell’sche Musik durch die experimentellen Interpolationen des Cellisten Atsushi Sakai, der auch selbst auf der Bühne erscheint, um zu musizieren, unterbrochen und konterkariert wird, ohne daß diese viel mehr brächten, als ein komödiantisches Ins-Lächerliche-Ziehen der festlichen Stimmungslage des Originals.
Zur Choreographie sei gesagt, dass man den Mitgliedern von Peeping Tom für die Artistik und Akrobatik ihrer Einlagen nur höchsten Respekt zollen kann, auch wenn man festhalten muss, dass die gegen Ende immer expressiver und grotesker werdenden Verrenkungen, deren sexualisierter und orgiastischer Gestus wohl bacchantisch wirken soll und am Ende gar in Anthropophagie ausartet, dann eben doch auch mit dem Werk Purcells nicht zu einer gesamtkunstwerkshaften Einheit verschmelzen, sondern zumindest phasenweise als mimischer Fremdkörper wirken.
So bleibt am Ende ein gemischter Eindruck von dieser luxemburgisch-französischen Koproduktion. Sehens- und hörenswert auf jeden Fall, aber doch etwas disparat und überfrachtet. Wer sich selbst ein Bild machen möchte, kann „Dido and Aeneas“ am morgigen Freitag, 29.4., um 20.00 Uhr, am Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg sehen. Tickets gibt es hier: https://theatres.lu/fr/dido-aeneas.