
TRIER. Am gestrigen Samstagabend fand am Theater Trier die Premiere der „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss statt. Das Premierenpublikum sah eine begeisternde Inszenierung des vormaligen Operndirektors Jean-Claude Beruttti, die heitere und melancholische Momente fein austarierte und das Werk im Kontext der europäischen Kulturgeschichte ausleuchtete. Dabei gab besonders eine Sängerin eine Gala-Vorstellung – und auch das Orchester setzte Glanzlichter.
Von Alexander Scheidweiler
„In unserer Inszenierung weht der Hauch eines verloren gegangenen Mitteleuropas“, so Regisseur Jean-Claude Berutti in einem Gespräch über seine Inszenierung der „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss, deren Premiere am gestrigen Samstagabend im Großen Haus des Theaters Trier stattfand. Ursprünglich als Nachspiel zu Molières „Bürger als Edelmann“ konzipiert, stellt die 1916 in Wien uraufgeführte Zweitfassung aus Opern-Einakter mit Vorspiel eine eigenständige Schöpfung dar, in der das Vorbild Molières nur noch andeutungsweise erkennbar ist, obgleich das Grundmuster, dass im Hause eines reichen Snobs – der adelsbegeisterte Kaufmann Jourdain bei Molière, der namentlich nicht genannte „reichste Mann von Wien“ im Libretto von Hugo v. Hofmannsthal – eine künstlerische Darbietung zur Aufführung gelangt – das „Ballett der Nationen“ bei Molière, die Oper „Ariadne auf Naxos“ sowie das heitere Tanzstück „Die ungetreue Zerbinetta und ihre vier Liebhaber“ bei Hofmannsthal – offensichtlich beibehalten wurde. Auch, dass Masken der Commedia dell’arte zum Figureninventar gehören, bildet eine Gemeinsamkeit der beiden Werke des französischen Komödien-Autors des Barock und des österreichischen Autors der dahinsinkenden Donaumonarchie, dessen Literatur stets einen neo-barocken Zug trägt: So brechen Zerbinetta und ihre vier komödiantischen Mitstreiter/Verehrer Harlekin, Scaramuccio, Brighella und Truffaldin bei Hofmannsthal/Strauss die tragische Opernhandlung um die von Theseus verlassene kretische Prinzessin des griechischen Mythos immer wieder ironisch mit ihren Späßen, während bei Molière nicht nur der Coviello eine Schlüsselrolle in den Liebeswirren um Monsieurs Jourdains Tochter spielt, sondern auch für das „Ballett der Nationen“ vorgesehen ist, dass ein Scaramuccio, zwei Tivelinos und ein Harlekin „eine Serenade in der Weise der italienischen Komödianten vortragen“.
Erinnerung an eine gesamteuropäische Hochkultur
Das braucht man natürlich alles im Detail überhaupt nicht zu wissen, um an der Berutti’schen Inszenierung seine Freude zu haben, und kann’s im Grunde auch gleich wieder vergessen. Es wurde hier nur ausgeführt, um zu verdeutlichen, dass Berutti mit vollem Recht im bereits zitierten Gespräch darauf hinweist, dass der Molière-Kenner Hofmannsthal „das Interesse bei Strauss für das Grand Siècle unter Ludwig XIII. und XIV.“ weckte und sich „diese kuriose Mischung aus dem Pariser Grand Siècle und der Zeit Maria Theresias in ‚Ariadne auf Naxos‘“ daher erklärt. Beruttis Analyse trifft deshalb einen Nerv: „Es ist heute noch ein Thema und war es noch mehr in der Zeit von Strauss und Hofmannsthal, dass die Welt von gestern großenteils im Ersten und schließlich im Zweiten Weltkrieg endgültig verschwand.

Dieses Gefühl des Verlustes, das die Menschen in den 1940er Jahren hatten, versuche ich in meiner Inszenierung aufzuspüren. Das Vertraute von früher, von vor den Weltkriegen, als die Grenzen nicht verhärtet waren, ist fast nicht mehr da. Das grenzenlose Europa war auch ein Nest für Künstler, die überall hin konnten.“ Aus dieser elegischen Stimmung des Verlustes heraus lebt Beruttis Inszenierung, eine Verlust-Stimmung, die sich aus der Erinnerung an eine gesamteuropäische Hochkultur speist, für die das Grand Siècle des Sonnenkönigs und das Theresianische Zeitalter des Habsburgerreiches historische Paradebeispiele sind, in denen die Literatur, Musik und Kunst der Völker Europas in einem noch nicht durch die im 19. Jahrhundert aufkommenden Nationalismen zerschnittenen Austauschverhältnis standen, wovon noch im franzisco-josephinischen Wien der vorletzten Jahrhundertwende, in dem Hofmannsthals Molière-Rezeption sich vollzog, ein Nachhall zu spüren war, verbürgt durch den multinationalen Charakter des habsburgischen Vielvölkerstaates.

Diese etwas ausführliche Vorbemerkung war nötig, um die klugen und erhellenden Überlegungen nachvollziehbar zu machen, aus denen heraus Berutti in dieser hervorragenden Inszenierung, mit der er seinen ausgezeichneten „Rosenkavalier“ aus dem Jahre 2022 noch übertrifft, die Rahmenhandlung des Vorspiels vom Wien des Barock in dasjenige der frühen 40er-Jahre verlegt hat, was sich nicht nur in den Kostümen des Vorspiels (Carola Vollath) allgemein, sondern am augenfälligsten in dem Umstand, dass der Offizier (Ryusuke Haskell Sato) sowie ein weiterer Handlanger der gebieterischen Haushofmeisterin (Barbara Ullmann) schwarze SS-Uniformen tragen und wiederholt der „deutsche Gruß“ gezeigt wird. Man erkennt: In diesem Wiener Stadtpalais hat nach dem „Anschluss“ bereits ein (Un-)Geist Einzug gehalten, der mit der „Welt von gestern“ der alten, supra- und multinationalen Donaumonarchie gebrochen hat.
Symbole gediegener Bildung
Das Stadtpalais, in dem die Bühne für das Spiel im Spiel aufgebaut ist, erscheint dabei als großzügiger Raum mit gediegener Wandvertäfelung, großen Fenstern rechts und mächtigen Türen links sowie zwei Durchgängen im hinteren Teil, deren rechter den Blick auf eine große Bücherwand freigibt, ein Symbol gediegener Bildung, das die an der Rück- und linken Seitenwand angebrachten großformatigen Gemälde ergänzt, Zeugnisse einer Kunstgeschichte, die immer eine gesamt-europäische gewesen ist (Bühnenbild: Rudy Sabounghi). Zu Beginn hantieren die schwarz Uniformierten mit einigen der Gemälde, die auf einem Rollwagen im Vordergrund der Bühne stehen. Schrecklicher Verdacht: Handelt es sich um Beutekunst? Später dann, als der Komponist (Janja Vuletic) aufgrund des idiosynkratischen Wunsches des reichen Auftraggebers, Tanzstück und Oper mögen zeitgleich aufgeführt werden, genötigt ist, Kürzungen an der Oper vorzunehmen, zerschneiden (zensieren?) sie Teile der Partitur.

Dennoch ist Beruttis Inszenierung mitnichten eine düstere: Heiterkeit und Melancholie, Trauer um Verlust und Aufbruchsenthusiasmus sind stets fein austariert. Und dazu tragen die lustigen Personen sehr viel bei, deren Späße für einige Lacher im Publikum sorgten. Herausragend dabei Annija Adamsone als Zerbinetta. Hatte sie erst vor kurzem als Despina in „Così fan tutte“ komödiantisches Talent an den Tag gelegt und mit ihrer energiegeladenen Interpretation von „Una donna a quindici anni“ ein musikalisches Glanzlicht gesetzt, so lieferte sie als Anführerin der Komödiantentruppe am gestrigen Abend eine wirklich umwerfende Leistung ab. Gewiss: Die Koloraturarie „So war es mit Pagliazzo“, mit der sie die Theseus nachtrauernde und den Todesboten Hermes herbeisehnende Ariadne (Yibao Chen) erfolglos aufzuheitern sucht, ist ohnedies ein Publikumsliebling – doch mit solch einer überströmend-jubelnden – eingedenk des späteren Auftrittes des Bacchus möchte man fast sagen: dionysischen – Vitalität und Agilität bei gleichzeitiger höchster Genauigkeit muss man sie erstmal hinkriegen. Hier zeigte die lettische Sängerin, warum sie unlängst mit der höchsten staatlichen Auszeichnung geehrt wurde, die ihre Heimat im Bereich Musik zu vergeben hat. Kein Wunder, dass einige Zuschauer kaum an sich halten konnten und mit dem Szenenapplaus schon beginnen wollten, bevor die Arie abgeschlossen war! Mit viel Körperspannung federt Adamsone in ihren hohen Absätzen über die Bühne, mit viel Freude am Parodistischen kommandiert sie die „muntere Gesellschaft“ der Komödianten, drängt sich immer wieder in die Lamentationen der von den drei Nymphen sekundierten Ariadne und karikiert mit frecher Gestik und Mimik gemeinsam mit ihren männlichen Begleitern deren pathostriefende Gebärdensprache. Die Nymphen – Silja Schindler als Najade, Vanessa Lisette López-Gallegos als Dryade und Sotiria Giannoudi als Echo – harmonierten übrigens ausgezeichnet, wobei Schindlers klarer Sopran etwas hervorstach.

Mit Yuriy Hadzetskyy stand Adamsone ein starker Harlekin als männlicher Mit- und Widerpart zur Seite: Mit viel Wärme und farbenreichem Bariton sang er das schlichte und doch von so tiefer Weisheit zeugende „Lieben, Hassen, Hoffen, Zagen“ mit dem im Deutschen geradezu redensartlich gewordenen „Alles kann ein Herz ertragen“, gipfelnd in der inständigen und mit authentischer Eindringlichkeit vorgetragenen Bitte an die trauernde Ariadne: „Mußt dich aus dem Dunkel heben, / Wär es auch um neue Qual, / Leben musst du, liebes Leben, / Leben noch dies eine Mal!“ Welch’ schöne Verse sind Hofmannsthal hier gelungen, welch’ berührende und bestechend einfache Musik hat Strauss dazu komponiert und wie überzeugend sang Hadzetskyy die Arie an diesem Trierer Premierenabend! Auch komödiantisch ergänzten sich Hadzetskyys Harlekin und Adamsones Zerbinetta vorzüglich: Das verliebte Sich-Kabbeln der beiden, das sich an die Koloraturarie anschließt („Zu denken, dass es Frauen gibt, denen er eben darum gefiele – “) ist wirklich herzallerliebst.
Und die eigentlichen Hauptfiguren Ariadne und Bacchus? Wussten die Herausforderung zu bemeistern, sich angesichts dieses starken Komödiantenpaares zu behaupten. Yibao Chen singt die Titelrolle mit jener Dignität, die der Musiklehrer der Primadonna im Vorspiel anempfiehlt: Innig und melancholisch vermag sie zu trauern, bevor sie sich im Finale im Duett mit Bacchus (Gustavo Mordente Eda) zu neuem Lebensmut emporschwingt. In das „Es gibt ein Reich“, die große Arie der Todessehnsucht, legt sie eine eine Resignation, die einerseits milde wirkt, andererseits aber auch die Tiefe des Abgrundes erahnen lässt, in den die Figur blickt. Gustavo Mordente Eda als Bacchus steigerte sich erneut gegen Ende immer mehr, hin zu einem wahren Finale Furioso: Wenn dieser Bacchus mit kraftvollem, strahlendem Tenor seiner Ariadne versichert „Und eher sterben die ewigen Sterne, / Eh denn du stürbest aus meinen Armen!“, dann hat das etwas von der ungezähmten Kraft, die dem Gott des Rausches ziemt. Das ist nicht nur ein Helden-, sondern geradezu ein olympischer Tenor! Ob er allerdings diesen übertriebenen Weintrauben-Kopfschmuck tragen muss, sollte vielleicht nochmal überdacht werden.

Lobenswert auch, wie treffend Janja Vuletic in der Hosenrolle als Komponist im Vorspiel beim „Sein wir wieder gut“ das gekränkte Selbstgefühl des noch etwas juvenil-unerfahrenen Künstlers, der seine „heilige Kunst“ durch die Vermengung mit der Komödie entweiht wähnt, zum Ausdruck brachte.
Das Philharmonische Orchester der Stadt Trier unter der Leitung von Generalmusikdirektor Jochem Hochstenbach schließlich erbrachte bei dieser Premiere ebenfalls eine Glanzleistung – mit zarter, kammermusikalischer Nuanciertheit insbesondere in Ouvertüre und Vorspiel zum Opernakt, im Laufe des Opernaktes dann aber zusehends einen geradezu bacchantischen, mitreißend dahinströmenden Strauss-Klang entfaltend.
Verlust und neuer Aufbruch
Ein Wort muss noch zu den bereits erwähnten Gemälden gesagt werden, Berutti setzt sie gezielt und clever ein, um das Bühnengeschehen zu kommentieren: Dominiert über weite Strecken der an der Rückwand neben dem linken Durchgang angebrachte „Nachtmahr“ von Johann Heinrich Füssli, den Alpdruck veranschaulichend, der sowohl auf der Gesellschaft im Stadtpalais wie auch auf der Seele der Ariadne lastet, so wird im Moment des wechselseitigen Erkennens von Bacchus und Ariadne, der für die Hauptfiguren die Wendung zu einer gemeinsamen Zukunft der erfüllten Liebe einleitet, Watteaus „Einschiffung nach Kythera“ auf Bühne platziert, in der im Louvre gezeigten zweiten Fassung vom Jahre 1717, das symbolträchtige Gemälde des Aufbruchs zur Insel der Liebesgöttin.

Wie Norbert Elias, der soziologische Kenner der französischen Hofaristokratie, gezeigt hat, enthält das Bild auch eine politisch-gesellschaftliche Botschaft des Aufbruchs, musste es doch zeitgenössisch auch als Ausdruck der Hoffnung auf einen Neubeginn unter der Regenschaft Philipps v. Orléans verstanden werden, nachdem das Grand Siècle gegen Ende der sehr langen Herrschaft des Sonnenkönigs doch nach und nach in religiöser Frömmelei und Verkrustung der absolutistischen Strukturen erstarrt war. So tragen die kunstgeschichtlichen Bezugnahmen, die Berutti gekonnt in seine bemerkenswerte Inszenierung einbaut, dazu bei, den „Hauch eines verloren gegangenen Mitteleuropas“, der diese „Ariadne auf Naxos“ durchweht, zu unterstreichen, ohne jedoch allein das Gefühl des Verlustes zu akzentuieren, sondern auch, indem am Ende der Vorschein eines neuen Aufbruches erstrahlt.
weitere Termine: 19.4., 19.30 Uhr; 4.5., 16.00 Uhr; 13.5., 19.30 Uhr; 23.5., 19.30 Uhr