TRIER. Am gestrigen Freitagabend fand auf dem Augustinerhof die Premiere von Bizets „Carmen“ als Open Air statt. Der Publikumsliebling mit den vielen unvergänglichen Melodien kommt in der Inszenierung von Jean-Claude Berutti geradezu tänzelnd leichtfüßig daher und besticht mit der brillanten Leistung von Janja Vuletić in der Titelpartie.
Von Alexander Scheidweiler
Da auf der Empore im hinteren Teil des Bühnenbildes – passend zur „Carmen“-Premiere – eine große spanische Flagge im sanften Abendwind wehte, sah sich der Co-Intendant des Theaters Trier, Lajos Wenzel, vor Beginn der Open Air-Aufführung auf dem Augustinerhof am gestrigen Freitagabend genötigt, scherzhaft darauf hinzuweisen, dass man das Bühnenbild entworfen habe, bevor man gewusst habe, dass am Premierenabend zeitgleich das EM-Viertelfinale Deutschland gegen Spanien ausgetragen werde. Und soviel sei vorab gesagt: Die Premiere der „Carmen“ am Theater Trier war jedenfalls ein Erfolg in jeder Hinsicht, anders als der Auftritt der DFB-Elf im EM-Viertelfinale in Stuttgart.
Die Stimmung auf dem Augustinerhof war bei angenehmem, aber nicht übermäßig heißem Sommerwetter ausgesprochen gut und gelöst. Bereits zwei Stunden vor Beginn der Premiere um 20.00 Uhr wurde der Gastronomie-Bereich mit Bier, Sekt, Aperol und selbstverständlich auch alkoholfreien Getränken geöffnet. Bei ungezwungen und angeregten Gesprächen konnte sich das Trierer Opernpublikum auf den vielgespielten Publikumsliebling „Carmen“ einschwingen.
Heutzutage tut sich ja gar mache Inszenierung doch ein wenig schwer mit dem auf einer Novelle von Prosper Mérimée basierenden Libretto aus der Feder des Autoren-Duos Henri Meilhac und Ludovic Halévy, das bekanntlich so manche Offenbach-Operette getextet und auch hier ein etwas operetten- und klischeehaftes Textbuch abgeliefert hat. Tritt man einen Schritt zurück, so verwundert es fast, dass diese Räuberpistole mit ihren Roma-Stereotypen, groschenromanartigen Banditen- und Spelunkenszenen und ihrer flamencoübersättigten Andalusienromantik sich so ungebrochener Popularität erfreut. Allein wohl kaum eine Oper bietet so viele unverwechselbare und unvergängliche Melodien, die man immer wieder mit Begeisterung hören kann und die auch Menschen anzusprechen vermögen, die nicht zum Opern-Kernpublikum gehören. Habanera, Seguidilla, Zingarella-Lied, Toreromarsch, Blumenarie, Kartentrio – eine beeindruckende Reihe, die musikalisch in ein Spanien der farbenprächtigen Folklore entführt, in der untergründig die maurischen Kultureinflüsse fortwirken und so einen ästhetischen Orientalismus aufrufen, der heute vielfach fragwürdig erscheint.
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Doch gerade diese Fiktion des Fremden fasziniert an Carmen, der Figur und der Oper im Ganzen. Und gerade diese faszinierende Fiktion des Fremden – war Bizet nicht ohnedies ihr Meister? Lieben wir, die wir die Oper lieben, sein Œuvre nicht gerade des erlesenen und verspielten Orientalismus’ seiner Musik und seiner Schauplätze wegen, eines Orientalismus’, an dem man sich postkolonial eigentlich gar nicht mehr erfreuen dürfte? Eigentlich, wohlgemerkt, ist hier das Schlüsselwort – jenes Adverb, das doch stets an der Schnittstelle von Sprache und Welt die Rolle des Türstehers zwischen Wunsch und Wirklichkeit spielt. Denn wen vermöchte die luftige 1001 Nacht-Atmosphäre der „Djamileh“, die märchenhafte, von leisem Fernweh, esoterisierendem Spiritualitäts-Simulacrum und Zivilisationsmüdigkeit kündende Indien-Verklärung der „Pêcheurs des perles“ nicht zu verzaubern? Wohl nur jemanden, der den Unterschied zwischen Capriccio und Carpaccio nicht kennt.
Doch zurück nach Trier: Die Inszenierung des emeritierten Operndirektors Jean-Claude Berutti jedenfalls tut sich nicht schwer, sondern kommt im wahrsten Sinne des Wortes tänzelnd leichtfüßig daher, mit schwungvollen Flamenco-Tanzeinlagen in der Schenke des Lillas Pastia sowie zwischen den Akten, dargeboten von Hannah Arnoldy, Laura Biebel, Luca Müller und Felicia Roth, choreographiert von Reveriano Camil, der auch die Sprechrolle des Lillas Pastia gibt. Die Bühne, die die „Carmen“-Inszenierung sich mit „Shakespeare in Love“ teilt, das im Wechsel mit der Oper auf dem Augustinerhof gezeigt wird, ist horizontal gegliedert, mit dem hauptsächlichen Spielraum im unteren Bereich und der erwähnten, darüber angesiedelten Empore mit Spanien-Flagge und Lillas Pastia-Leuchtreklame, die im zweiten Akt entsprechend erstrahlt. Als äußerst versatile Bühnenmöbel dienen mannshohe Spinde, die im ersten Akt, zu einer Wand gruppiert, sowohl die Spinde der Wachsoldaten wie auch der Eingang der Zigarettenfabrik sind, dem die Arbeiterinnen entsteigen. Im zweiten Akt bilden sie mit auf der Rückseite angebrachten Retro-Werbeplakaten für diverse mediterrane Spirituosen – Ricard Pastis, Xérés Vermouth etc. – dem Innenraum der Schenke des Lillas Pastia, um im dritten Akt, wild über den Bühnenraum verstreut, die Felsenlandschaft des Schmugglerverstecks darzustellen, und im vierten schließlich zur mit Corrida-Plakaten beklebten Außenwand der Stierkampfarena zu mutieren, vor der das tragische Ende sich abspielt. Ein einfaches, aber effektives Bühnenbild von Rudy Sabounghi.
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Die auf die Zwischenkriegszeit verweisende Retro-Ästhetik der erwähnten Spirituosen- und Corrida-Plakate spiegelt sich in den Uniformen der Soldaten sowie allgemein in den Kostümen (Kostümbild: Carola Vollath), deren Look den Freund älterer Literaturverfilmungen ein wenig an die Sam Wood-Version von Hemingways Roman-Klassiker „Wem die Stunde schlägt“ über den Spanischen Bürgerkrieg mit Gary Cooper und Ingrid Bergmann in den Hauptrollen erinnert. Sollte diese Anleihe tatsächlich intendiert sein – umso besser. In jedem Falle sehr angemessen, wenngleich man sich ein bisschen davor hüten muss, das Freiheitspathos, das die Figur der Carmen umweht, allzu sehr ins Politische zu deuten, denn dafür gibt es im Text keine Hinweise. Dass am Ende des zweiten Aktes mit von den Sängern hochgehaltenen Buchstaben der Schriftzug „Vive l’Anarchie“ geformt wird, ist ein Detail auf das man daher vielleicht besser verzichtet hätte, zumal es ungewollt eher auf die Schwächen der Hauptfigur verweist. Denn das pathetische „La Liberté! La Liberté!“, das Carmen unmittelbar zuvor gesungen hat, ist eigebettet in das voraufgegangene Lob der „vie errante“, eines erratisch-unsteten Lebens, das den häufig und mehr oder weniger unmotiviert wechselnden Liebespräferenzen der Protagonistin entspricht, deren Freiheitsverständnis augenscheinlich vom Prinzip Verantwortung weitgehend unberührt bleibt. Ein über die Selbstbezüglichkeit des Hedonismus hinausgehender Sinnhorizont des Freiheitspathos ist jedenfalls bestenfalls in Spurenelementen erkennbar. Auch dies ist Teil der Tragik der Carmen-Figur.
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Es sei noch eine Regie-Idee Beruttis benannt und gelobt: Jene schwarz verschleierte Frauengestalt (Don Josés Mutter?), die im Hintergrund immer wieder durch und über die Bühne geistert und gleichsam das gestaltliche Gegenstück zum musikalischen Schicksalsmotiv bildet, dessen Einsatz im Programmheft, das die Handlung prägnant zusammenfasst, hervorgehoben und eingeordnet wird. Mehr als in diesem Programmheft steht, braucht man im Grunde nicht zu wissen – auch deshalb sei die Trierer Open Air-„Carmen“ all jenen wärmstens empfohlen, die nicht zum Opern-Stammpublikum gehören. Wer die Zusammenfassung und die musikalischen Erläuterungen im Programmheft kurz durchliest, kann sich entspannt zurücklehnen und einen wunderschönen Opernabend unter freiem Himmel genießen, auch wenn er oder sie keine Vorkenntnisse mitbringt. Mit der verschleierten Frau als gestaltgewordenem Schicksalsmotiv, das auf das tragische Ende vorausweist, greift Berutti übrigens einen Kunstgriff wieder auf, den er vor zweieinhalb Jahren in seiner großartigen „Don Carlo“-Inszenierung verwendet hatte, als der Geist Karls V. bedeutungsschwanger auf der Bühne erschien (lokalo.de berichtete).
Das eigentliche Pfund der Trierer „Carmen“ ist aber die Sängerin in der Haup- und Titeltrolle: Janja Vuletić ist eine phantastische Carmen! Und das hat auch seinen Grund: In einer hörenswerten Folge des Podcasts des Theaters Trier sprach die Mezzosopranistin über ihre lange persönliche Geschichte mit dem Werk – bereits mit 17 Jahren lernte sie die Partie der Carmen auswendig. Zwar betont Vuletić in der Sendung, dass die Carmen nie Routine sei, jede Inszenierung, ja jede Aufführung anders, doch ihre Performance an diesem Abend ist im besten Sinne des Wortes routiniert. Die Rolle passt ihr wie ein gut sitzendes Abendkleid. Schon mit der Habanera macht sie einen starken Aufschlag: Sehr suggestiv und gekonnt reizt sie die erotischen Qualitäten mit spannungsvollen Längen aus, die regelrecht vibrieren. Im Zingarella-Lied des zweiten Aktes steigert sie sich zu jener geradezu dionysischen Leidenschaft, die das Finale dieser Arie braucht („emporter par le tourbillon“/„vom Wirbel fortgerissen“). Im Kartentrio des dritten Aktes findet sie die von der Vorahnung des Todes verlangte, stimmliche Dramatik, und die trotzige Selbstbehauptung gegen Don Josés Drängen im vierten Akt trägt sie mit beeindruckender Wucht und Durchschlagskraft vor, insbesondere beim „Non! Non! Non! Je ne céderai pas.“ („Nein! Nein! Nein! Ich gebe nicht nach.“) Auch ihrer schauspielerischen Darbietung ist anzumerken, dass Vuletić sich lange mit der Partie auseinandergesetzt hat: Sowohl das Kokette Charmieren mit Don José im ersten Akt wie auch der verletzte und verletzende Hohn über seinen Wunsch, auf den Klang der Fanfare hin die Schenke zu verlassen, ohne ihren Tanz bis zum Ende gesehen zu haben, bis hin zu dem archaischen Zorn, mit dem sie am Schluss auf den Ring spuckt, den Don José ihr gegeben hatte, wirken echt und überzeugend. Eine tolle Performance!
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In der männlichen Hauptrolle liefert Thorsten Büttner einen soliden Don José ab. Zu Beginn etwas angestrengt in den Höhen wirkend, steigert er sich im Laufe des Abends und singt speziell die Blumenarie des zweiten Aktes mit großer lyrischer Feinfühligkeit. Yibao Chen kann sich als Micaëla neben Vuletićs starker Performance in der zweiten großen Frauenrolle als positiver Widerpart der Femme fatale behaupten. Sie verkörpert die mädchenhafte Arglosigkeit dieser in ihrer vordergründigen Harmlosigkeit eher undankbaren Rolle berührend und authentisch. Die große Arie des dritten Aktes („Je dis que rien ne m’épouvante“/„Ich sage, das mich nichts erschreckt“) singt sie mit andächtiger Innigkeit und bezaubernden Timbre. Die Arie wird in ihrem Vortrag zu jenem Gebet, das sie im Kern auch ist. Roman Ialcic bringt für einen glaubwürdigen Escamillo schon rein physisch das nötige Gardemaß mit: Im Torero-Kostüm des vierten Aktes glaubt man ihm auf den ersten Blick, fähig und willens zu sein, es auch mit dem wildesten Stier aufzunehmen. Sein kraftvoller, sonorer Bass vermittelt stets die etwas selbstverliebte, aber v.a. selbstbewusste Virilität, die für diese Partie vonnöten ist. Sein „Toréador, en garde“ ist nicht nur ein Torero-, sondern ein mitreißender Triumphmarsch.
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Die Opern- und Extrachöre des Theaters Trier sowie der Kinder- und Jugendchor harmonieren gut mit den Protagonisten, v.a. der Kinder- und Jugendchor hat – als Gassenkinder mit Spielzeug-Gewehren die Wachablösung parodierend – auch einen köstlichen humoristischen Auftritt. Das Philharmonische Orchester der Stadt Trier unter GMD Jochem Hostenbach spielt auf der Orchesterpodium neben der Bühne die feurigen Rhythmen der Bizet’schen Partitur präzise, aber zugleich mit der mediterranen Lebensfreude, die jenes spanische Temperament verströmt, das man als Zuschauer bei der „Carmen“ auch hören will. Ein besonders schöner Moment: Der kleine Dialog von Harfe und Flöte zwischen dem zweiten und dem dritten Akt, der im schwindenden Abendlicht über dem Augustinerhof einen besonders anrührenden Effekt machte. Allein dafür lohte es sich hinzugehen!
Da die verbleibenden, in der leicht gekürzten Fassung rund zweistündigen Aufführungen dieser sehenswerten Open Air-Inszenierung nun schnell und Schlag auf Schlag erfolgen, heißt es: Umgehend Karten sichern!
Weitere Termine: 7.7., 9.7. und 13.7., jeweils 20.00 Uhr
Sehr geehrter Herr Scheidweiler, wem und was wollen Sie den Lesern mit Ihren Schachtelsätzen mitteilen?
Übrigens war das Auftreten der DFB-Elf AUCH ein toller Erfolg !
Das Ergebnis nur leider nicht.