Selfie mit Posa. Verdis „Don Carlo“ am Theater Trier

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Roman Ialcic als Filippo II, Karsten Schröter als Großinquisitor und Janja Vuletic als Prinzessin d'Eboli. Foto: Martin Kaufhold

TRIER. Im Großen Haus des Theaters Trier feierte gestern Verdis „Don Carlo“ in der Mailänder Fassung von 1884 Premiere, inszeniert von Operndirektor Jean-Claude Berutti. Das große, musikdramatische Spätwerk des Meisters aus Parma ist in der Trierer Inszenierung eine musikalische Freude, was das Premierenpublikum denn auch zurecht mit Standing Ovations goutierte.

Von Alexander Scheidweiler

Der Historiker Heinz Schilling, ausgewiesener Kenner der Frühen Neuzeit und Berater zahlreicher, reichweitenstarker Fernseh-Dokumentationen, gab seiner großen Biographie Karls V. den Titel „Der Kaiser, dem die Welt zerbrach“. Eingängig – und treffend gewählt. Denn dem äußerst traditionsbewussten Karl, dessen Selbstverständnis stets der mittelalterlichen Kaiseridee als Universalherrscher einer ungeteilten Christenheit verhaftet blieb, mußte sein jahrzehntelanges, bestenfalls von durchwachsenem Erfolg gekröntes Ringen mit der Reformation, der französischen Krone und den Osmanen wohl wie das Zerbrechen der tradierten Welt erscheinen, die sein geistiger Bezugspunkt blieb. Am Ende demissionierte der Kaiser, in dessen Reich der Redensart nach die Sonne niemals unterging, enttäuscht und zog sich aus der Welt zurück. In gewissem Sinne weist so das Leben dieses vielleicht letzten mittelalterlichen und doch zugleich so renaissancehaft wirkenden Herrschers auf die Vergänglichkeitsthematik voraus, die später für Literatur, Kunst und Lebensgefühl des Barock so prägend wurden.

In Schillers „Don Carlos“ jedoch ist von alldem nie die Rede. Im späten Frühwerk von Deutschlands klassischem Bühnendichter schlechthin enthält der tragische, aber im Kern unpolitische, sich an das bürgerliche Trauerspiel anlehnende Vater-Sohn-Konflikt zwischen Karls Sohn und Nachfolger als König von Spanien, Philipp II., und dessen Sohn, dem unglücklichen und wohl in Wirklichkeit auch unfähigen Thronfolger und Titel-Anti-Helden, keine Bezugnahme auf Gestalt und Schicksal des Großvaters. In Verdis frühem Spätwerk „Don Carlo“, das gestern Abend im Großen Haus des Theaters Trier in der vieraktigen Mailänder Fassung von 1884, inszeniert von Operndirektor Jean-Claude Berutti, Premiere feierte, verhält sich das anders – und selbstverständlich zitiert das äußerst gehaltvolle Programmheft, das das Theater Trier zusammengestellt hat, denn auch das Buch von Heinz Schilling an prominenter Stelle zum Verhältnis von Großvater, Vater und Enkel.

Thorsten Büttner als Don Carlo und Carl Rumstadt als Rodrigo, Marquis v. Posa. Foto: Martin Kaufhold

Der Geist Karls V. spukt – ganz im Sinne der Hamlet-Allusion von Verdis Librettisten Méry und du Locle – buchstäblich über die Trierer Bühne, nachdem der eingangs auftretende Mönch (Andrei Nicoara) unter seiner Kutte Kürass und Schaftstiefel enthüllt und sich so symbolisch-kostümisch in den Wiedergänger des Kaisers verwandelt hat. Tatsächlich ziehen sich bei Verdi die ständigen Bezugnahmen auf Karls Scheitern wie ein roter Faden durch das Werk, spielen gleich zwei von vier Akten im bei Schiller gleichfalls nicht vorkommenden Kloster San Jerónimo de Yuste, in das der fromme Monarch sich nach seiner Abdankung zurückgezogen hatte – wenngleich er dort nicht, wie es populäre Vorstellung und literarische Verarbeitung oft (nicht nur bei Verdi) imaginiert haben, selbst als Mönch mit Habit und Tonsur, etwa in der kleinen, suggestiven Ballade Graf Platens, sondern schon bedeutend standesgemäßer lebte. Sei’s drum.

Berutti hat die herausragende Bedeutung der Karls-Motivik erkannt und daraus die tragende Idee seiner Inszenierung gewonnen: Er erweitert die Auftritte Karls ganz zu Anfang und ganz am Ende zum Leitmotiv, indem er weitere, stumme hinzufügt: So schreitet Karl unheilschwanger während des Schlussduetts des ersten Aktes, dem Streitgespräch Filippos (Roman Ialcic) und Posas (Carl Rumstadt), über die Bühne, justament als Posa dem König, der sich rühmte, des Menschen Herz so viel besser zu kennen als der Freiheits-Enthusiast Posa und deshalb mit harter Hand regiere, entgegenschleudert, Philipp werde der Welt nur „la pace … dei sepolcri“ („den Frieden der Gräber“) geben. Posas anschließende Warnung, der König möge sich hüten, nicht als zweiter Nero in die Geschichte einzugehen, bringt Rumstadt so überzeugend und eindringlich, dass man fast selber ein bisschen ins Grübeln kommt, wie sich die Nachwelt wohl einst der eigenen Person erinnern werde – auch wenn man kein Weltreich zu regieren sowie ethisch schwierige, real- und machtpolitische Abwägungen im großen Stil vorzunehmen hat.

Einzug des Hofstaates. Foto: Martin Kaufhold

Oder gegen Ende des dritten Aktes, wo Thorsten Büttner als Carlo zu großer Form aufläuft, wenn der Prinz an der Leiche Posas mit dem Vater bricht, bevor der von Karsten Schröter gesungene Großinquisitor – in Trier im Kardinalspurpur mit Blindenstock – dem von der Prinzessin Eboli (Janja Vuletic) angezettelten Volksaufstand Einhalt gebietet, Filippo Thron und (vielleicht) das Leben rettend. Am legendenhaften Schluss der Oper wird der gefallene Kronprinz in die jenseitige Sphäre des Großvaters hineingezogen und absorbiert, als ihm seine Welt zerbrochen ist, so wie dem Großvater die seine: Die Liebe zu Elisabetta (Arminia Friebe) wird sich nicht erfüllen, der Freund ist von der Inquisition meuchlings ermordet, Flanderns heroischen Freiheitskampf wird er nicht anführen können – durch eine Öffnung im Bühnenboden führt Karl V. den Enkel in der Trierer Inszenierung hinfort in die andere Welt, bevor der Vorhang endgültig fällt.

Das Programmheft interpretiert wie folgt: „Am Ende seiner Oper wird der Titelheld durch die Erscheinung Karls V. vor dem Zugriff der Inquisition bewahrt. Diese Erscheinung steht für Religiosität als Idee, nicht als Institution. Der religiöse, aber antiklerikale Verdi nimmt hier gegen den fatalen Sieg des Großinquisitors Stellung.“ Kann man so sehen. Man kann aber auch den Blick von der Ebene der Religionskritik im Sinne einer Kritik an der Institution auf die Ebene der existentiellen Tragik der Figuren und der Vergänglichkeit alles Irdischen richten. Nicht umsonst wiederholt der Mönch/Karl V. am Ende wortgleich, was er eingangs gesungen hatte: „Il duolo della terra / Nel chiostro ancor ci segue; / Solo del cor la guerra / In ciel si calmerà.“ („Der Schmerz der Erde / Verfolgt uns noch im Kloster; / Der Widerstreit des Herzens / Wird sich im Himmel beruhigen.) Das unruhige Herz, das, dem Weltgetriebe entrückt, erst in Gott Ruhe finden kann – das ist natürlich eine Augustinus-Metapher, von Verdis Librettisten in jene neobarocke Vanitas-Weltsicht übersetzt, die wenig später der junge Hofmannsthal in seinen frühen Dramen entfalten wird.

Diesen Aspekt sollte man nicht übersehen, denn auch Philipps Welt ist zerbrochen: Mit der großen Klage-Arie um enttäuschte Liebe und Verrat am Beginn des dritten Aktes, dem „Ella giamai m’amò“, das bei Ialcic geradezu ergreifend klingt, verströmt sich die Traurigkeit des Königs geradezu in unendliche Räume, ein Moment tiefster Melancholie – auch Philipp ist die Welt zerbrochen. Wie Schade, dass Verdi, der sich so oft von Schiller inspirieren ließ, sich nie an der großen, tragischen Trilogie über den Feldherrn aus dem Dreißigjährigen Krieg versuchte!

Der Kronprinz zieht den Degen gegen den König. Foto: Martin Kaufhold

Der tiefe Pessimismus der Handlung – drei Generationen spanischer Habsburger sind gescheitert, der Großvater politisch, der Sohn privat (soweit bei absolutistischen Monarchen von Privatheit überhaupt die Rede sein kann) und der Enkel auf der ganzen Linie – der in so scharfem Kontrast zu dem aufbruchsbeseligten, menschheitsoptimistischen Marsch- und Freundschaftsduett „Dio che nell’alma infondere“ Carlos und Posas steht, drückt sich musikalisch bekanntlich in einer klanglichen Düsternis aus, die in Verdis Œuvre alleine dasteht, was den Orchesterpart zu einer besonderen Herausforderung macht, den das Philharmonische Orchester der Stadt Trier unter der Leitung von Generalmusikdirektor Jochem Hochstenbach tadellos meistert. So muss das klingen! Hinzu kommen glänzende Koloraturen von Janja Vuletic im Schleierlied der Eboli sowie eine starke Performance von Arminia Friebe, v.a. gegen Ende, namentlich im Abschiedsduett Elisabettas mit Carlo: Beim „L’eroismo è questo e la sua sacra fiamma! / L’amor degno di noi, l’amor che i forti infiamma!“ („Heldentum ist es und seine heilige Flamme! / Die Liebe, die unser würdig ist, die Liebe, die die Starken entflammt!“) ist sie wirklich „on fire“!

Ein kleiner Wermutstropfen ist, dass das Bühnenbild mit seiner über weite Strecken spartanischen Bürooptik sowie die Kostüme im Look der Zwischenkriegszeit wenig mit dem Werk zu tun haben und auch keine neuen Facetten beleuchten. Allenfalls könnte man in dem Umstand, dass Filippo im zweiten Akt die Huldigung in einer caudilloartigen Uniform entgegennimmt eine Anspielung auf Franco vermuten, was aber auch etwas abgegriffen wäre. Ein ganz netter Gag ist zudem, dass die zu kaffeetrinkenden Schreibkräften mutierten Hofdamen sich im ersten Akt darum reißen, mit dem soeben aus Frankreich zurückgekehrten, charmanten Kavalier Posa Selfies zu schießen. Ein netter Gag, aber auch nicht mehr. Man mag argumentieren, dass eine gewisse Verbürgerlichung des Settings in Anbetracht des Hintergrundes der der Oper zugrundeliegenden Schiller-Tragödie in der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels angezeigt ist, dem Aspekt des neobarocken Welttheaters und der höfischen Haupt- und Staatsaktion, die Verdis „Carlo“ eben auch ist, wären gleichwohl etwas mehr Schauwerte und Repräsentativität angemessen gewesen.

Im Ganzen ändert dies aber nichts daran, dass das Theater Trier mit dem „Don Carlo“ ein großes, musikdramatisches Spätwerk des Meisters aus Parma auf die Bühne gebracht hat, das musikalisch eine Freude ist, was das Premierenpublikum denn auch zurecht mit Standing Ovations goutierte.

Weitere Termine: 6.2., 12.2., 20.2., 4.3.

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