„Asozialer Oberhammer“ Rente mit 68? Zur Debatte über die Reformvorschläge

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Distanzierte sich auf Twitter von seinen Beratern: Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Foto: Wolfgang Kumm/dpa

Über die Frage, ob das Renteneintrittsalter erhöht werden muss, wird seit Vorlage eines neuen Gutachtens am Montag in Deutschland heftig diskutiert. Aber auch im Ausland stellt sich die Frage, wie die Altersvorsorge angesichts des demographischen Wandels zukunftsfest gemacht werden kann.

Ein Überblick von Alexander Scheidweiler

Ganz Frankreich diskutiert über eine Rentenreform.

Ganz Frankreich?

Ja.

Denn Emmanuel Macron soll beabsichtigen, das im vergangenen Jahr wegen der Pandemie aufgeschobene Projekt wieder auf die Tagesordnung zu setzen, obwohl im nächsten Jahr Präsidentschaftswahlen anstehen, die Rechtspopulistin Marine Le Pen ihm im Nacken sitzt und die Reform, die u.a. eine Anhebung des Renteneintrittsalters vorsieht, extrem unbeliebt ist.

Dinah Cohen verwies gestern auf der Seite von Le Figaro auf eine neue Umfrage des Instituts Odoxa Backbone-Consulting, der zu Folge 60% der Franzosen das Vorhaben ablehnen, quer durch alle Parteien. Lediglich die Anhänger von Macrons eigener liberaler En Marche-Partei sind mehrheitlich für die Reform. Wird gezielt nach der Anhebung des Renteneintrittsalters von derzeit 62 auf 64 Jahre gefragt, steigt die Ablehnung auf 70%, ein Umstand, der Gael Sliman, den Chef von Odoxa, zu der Aussage veranlasst, es handle sich hier um „eines der wenigen Themen, bei denen unter den Franzosen Einigkeit herrscht.“

Emmanuel Macron will das französische Rentensystem reformieren. Foto: dpa

Bei allen Unterschieden zwischen Frankreich und Deutschland wirft die französische Debatte doch auch ein Schlaglicht auf die Diskussion, die sich hierzulande seit Montag abspielt. Denn am Montag wurde ein neues Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums vorgelegt, das u.a. den Vorschlag enthält, das Renteneintrittsalter, das gemäß derzeitiger Rechtslage bis Ende der 20er Jahre auf 67 Jahre ansteigen soll, bis 2042 auf 68 Jahre anzuheben.

Der Aufschrei ließ nicht auf sich warten: Die Vorsitzende der Linkspartei, Susanne Hennig-Wellsow, sprach vom „asozialen Oberhammer“, SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich warnte davor, künftige Rentner zu verunsichern. Auch von Gewerkschaften und Sozialverbänden kam Kritik. Schließlich sah sich Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) am Dienstag genötigt, sich auf Twitter von seinen Beratern zu distanzieren: „Das Rentenalter ist in der 1. Groko (CDU/SPD/CSU) auf Vorschlag des geschätzten Kollegen F. Müntefering auf 67 Jahre festgesetzt worden. Dabei sollte es bleiben, das ist seit Jahren meine Meinung. Der Wiss. Beirat ist unabhängig; seine Vorschläge binden weder BMWi noch Minister.“

Linken-Cheffin Susanne Hennig-Wellsow kritisiert die Reformvorschläge. Foto: Frank May/dpa

Axel Börsch-Supan hingegen sieht die Vorschläge falsch wiedergegeben. Börsch-Supan, Ökonom vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München, gehört selbst dem Wissenschaftlichen Beirat an, dessen Vorsitz er jahrelang innehatte. Zudem saß er von 2018-2020 in der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“, schon zu Gerhard Schröders Zeiten war er Mitglied der Rürup-Kommission, die seinerzeit Vorschläge zur Reform der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung erarbeitete.

„Das ist wirklich erstaunlich, was so in der Welt ankommt, wenn doch oberflächlich gelesen wird“, schimpfte der Wirtschaftswissenschaftler am Mittwoch in der „Phoenix Runde“. Bekanntlich gehe die Generation der Babyboomer nun nach und nach in Rente, gleichzeitig hatte diese Generation aber nur wenige Kinder, so dass ein zunehmendes Ungleichgewicht zwischen immer mehr Rentenbeziehern und immer weniger Beitragszahlern entstehe. Auf diese Situation – und dies sei die Kernaussage des Beirats – müsse in einer Weise reagiert werden, die die aus diesem Ungleichgewicht entstehenden Lasten auf möglichst viele Schultern verteile. Die gegenwärtig geltenden Haltelinien bei Sicherungs- und Beitragsniveau (48% bzw. 20%) seien bei Beibehaltung des jetzigen Renteneintrittsalters nur dann fortzuführen, wenn die Steuerzuschüsse des Bundes zur Rentenversicherung stark ansteigen, und zwar von gegenwärtig 28% des Bundeshaushalts auf über 50% bis zur Jahrhundertmitte, so Börsch-Supan. Dies sei die falsche Politik, weil die Finanzierungsspielräume des Staates für Zukunftsausgaben wie Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz unverhältnismäßig eingeschränkt würden.

Daher seien drei Maßnahmen empfehlenswert, die der Expertenrat in seinem Gutachten dargestellt habe: zum einen müssten die Beiträge moderat angehoben, ferner der Anstieg der Rentenzahlungen verlangsamt und drittens müsse auch das Renteneintrittsalter angepasst werden. Dieser letzte Punkt gelte aber nur unter der Voraussetzung, dass die Lebenserwartung weiter ansteige und solle auch nach Meinung der Experten nicht durch ein starres Renteneintrittsalter, sondern durch ein flexibles Fenster erreicht werden. Steigt die Lebenserwartung aber bis zur Jahrhundertmitte wie gegenwärtig angenommen im Schnitt um drei Jahre, müsse die Lebensarbeitszeit auch um ein Jahr verlängert werden.

So heißt es in dem Gutachten ausdrücklich auf Seite 27: „Der Beirat empfiehlt daher […] die ‚Regelaltersgrenze‘ als gesellschaftliche Norm abzuschaffen und durch das Konzept eines ‚Renteneintrittsfensters‘ zu ersetzen, innerhalb dessen die Menschen ihr Eintrittsalter frei wählen kön­nen und damit auch ihre Rentenhöhe bestimmen.“

Doch wie man es auch dreht und wendet: Das bisherige System wird angesichts der dramatischen demographischen Veränderungen, die das Gutachten zu Beginn detailliert darstellt, reformiert werden müssen. Die Debatte wird daher weitergehen, in Frankreich und in Deutschland, und sie wird für Zündstoff in den Wahlkämpfen sorgen.

Ob eine Reform gelingen wird, scheint indes fraglich. Zu groß sind die Widerstände, zu dünn die Bilanz der bisherigen Rentenreformen, und zwar international. Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beitrags enthält denn auch einen Abschnitt, der „Anmerkungen zur politischen Ökonomie von Rentenreformen“ überschrieben ist. Dort heißt es:

„Die Kommission ‚Verlässlicher Generationenvertrag‘ ist im März 2020 in Deutschland nach Ansicht vieler Kommentatorinnen und Kommentatoren gescheitert. Das in Frankreich von Delevoye (2019) geplante und von Präsident Macron im Januar 2020 dem französischen Parlament vorgelegte Rentenreformgesetz (République Française 2020) wurde abgelehnt. In den USA ist trotz mehrerer Versuche seit 1983 keine Rentenreform mehr gelungen.“

Die Aussichten sind also grau in grau.

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3 Kommentare

  1. Hier wird immer davon gesprochen das man dem deographischen Wandel entgegentreten und Ausländer ins Land holen muß , während immer mehr Arbeitsplätze der Automatisierung zum Opfer fallen !?
    Wo bitte sollen diese Menschen denn als was arbeiten ?
    Es war aber schon seit den 50ger Jahren abzusehen das dieses Rentensystem auf Dauer nicht funktionieren kann . Außerdem sollte man Beamte und Selbstständige ebenfalls in die Rentenkasse einzahlen lassen .

    • Beamte, Politiker, Vorstände, Aufsichtsräte und alle die, die Riesen Bonis und Tantiemen ausgezahlt bekommen ohne eine Art von Haftung oder Verantwortung zu haben, da sollte dick an die Rentenkasse abgedrückt werden (wegen sozialer Gerechtigkeit), Selbstständige beziehen keine staatliche Rente/Pension(es sei sie haben dafür eingezahlt) haben volle Haftung und unterliegen der Eigenvorsorge.

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