Im Nebel der Zeit verschwommen: „Der Trafikant“ am Theater Trier

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Franz Huchel (Florian Voigt) trifft Anezka (Tamara Theisen). Foto: Marco Piecuch

TRIER. Zahllose Menschen haben den Roman „Der Trafikant“ des österreichischen Schriftstellers Robert Seethaler gelesen, der die Geschichte des jungen Franz Huchel aus dem Salzkammergut im Wien der späten 30er-Jahre erzählt. Mit Bruno Ganz wurde die berührende Geschichte vor dem Hintergrund der dramatischen Entwicklungen um den „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland 2018 verfilmt. Gestern Abend fand in der Europäischen Kunstakademie die Trierer Premiere der Bühnenfassung statt. Nicht alles wirkte dabei ganz stimmig.

Von Alexander Scheidweiler

Auf mehr als 40 Auflagen hat es der Long- und Besteller „Der Trafikant“ des Wiener Schriftstellers und Schauspielers Robert Seethaler seit seinem Erscheinen vor gut einem Jahrzehnt gebracht, der Kinofilm aus dem Jahre 2018 mit Bruno Ganz als Sigmund Freud wurde mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ ausgezeichnet und gewann mehrere Preise. Es ist also nicht übertrieben zu sagen, dass Millionen von Menschen die Geschichte des aus dem ländlichen Salzkammergut stammenden Franz Huchel, den seine Mutter im Spätjahr 1937 im Alter von 17 Jahren nach Wien schickt, um dort bei ihrem alten Bekannten und mutmaßlichen Ex-Liebhaber Otto Trsnjek eine Ausbildung zu beginnen, kennen und zweifellos auch davon berührt wurden.

Trsnjek betreibt eine Trafik, also eines jener typisch österreichischen Tabak-, Zeitungs- und Schreibwarengeschäfte, die auf das bereits vom Aufklärerkaiser Joseph II. im 18. Jahrhundert etablierte Tabakmonopol zurückgehen und die, wie das Programmheft des Theaters Trier informiert, noch heute laut Umfragen selbst von Nichtrauchern weit mehrheitlich als „wichtiger Teil der Österreichischen [sic!] Tradition“ gesehen werden. In Wien gerät der junge Mann in die politischen Wirren unmittelbar vor und nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland, freundet sich mit einem guten Kunden der Trafik an, einem gewissen Professor Freud, den die Wiener respektlos den „Deppendoktor“ nennen und der nach und nach zu einem väterlichen Freund in der fremden Großstadt wird – und er lernt selbstverständlich auch ein Mädchen kennen, die schöne Böhmin Anezka, die in einem Varieté erotische Tänze aufführt und mit der er eine turbulente Liebesbeziehung unterhält, bevor sie Franz, dem „Burschi“, wie sie ihn nur nennt, für einen SS-Offizier den Laufpass gibt.

Ankunft in der Trafik: Otto Trsnjek (Michael Hiller, links) und Franz Huchel (Florian Voigt). Foto: Marco Piecuch

Am gestrigen Donnerstagabend fand nun die Premiere der von Seethaler selbst stammenden Bühnenadaption des Romans im voll besetzten Theatersaal der Europäischen Kunstakademie Trier statt, inszeniert von der aus Österreich stammenden Regisseurin Christina Gegenbauer.

Das Bühnenbild von Frank Albert, der auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, ist hochgradig abstrakt geraten und besteht aus einem zerklüfteten Gebirge aus roten Kästen mit horizontalen Leuchtelementen, hinter dem sich eine im gleichen aggressiven Farbton gehaltene, breite, fahnenartige Diagonale von links unten nach rechts oben über die Rückwand zieht. Gearbeitet wird mit nur wenigen Requisiten – eine Zigarrenkiste und ein paar Zeitungen in Frakturschrift für die Trafik, ein Koffer, den Freud mit sich führt, als er sich anschickt, ins englische Exil aufzubrechen, ein paar große Umhängetaschen für den Briefträger etc. Aus dem zwischen Kastengebirge und Rückwand befindlichen Graben, über den die Schauspieler den Spielraum betreten, steigen nahezu unaufhörlich Nebelschwaden empor.

Prominenter Kunde: Sigmund Freud (Klaus Michael-Nix) kauft in der Trafik ein. Foto: Marco Piecuch

Auf der Spitze des Kastengebirges pflanzt Schauspieler Raphael Christoph Grosch, der im Laufe des Abends in zahlreiche kleinere Rollen schlüpft, unter denen der böswillige Nachbar Otto Trsnjeks (Michael Hiller), der mit dem Nationalsozialismus sympathisierende Metzger Rosshuber, wohl die bedeutendste ist, zu Beginn des Abends das österreichische Rot-Weiß-Rot auf, nicht ohne die an einer langen Stange befestigte Fahne zuvor eifrig über den Köpfen der Zuschauer zu schwenken – eine etwas befremdliche Regieidee. Das Ganze wirkt ein wenig wie aus einem alten Wahlwerbespot der FPÖ aus der Ära des ehemaligen Vizekanzlers und Vorsitzenden der alpenländischen Rechtsaußenpartei, HC Strache, der mit überpatriotischem Fahnenschwenken und befremdlichen Sprechgesängen um Wählerstimmen buhlte, bevor er in der Ibiza-Affäre über Pläne stolperte, die österreichische Medienlandschaft einer vermeintlichen russischen Oligarchennichte auf dem Präsentierteller zu überantworten. Falls das Fahnenschwenken eine Anspielung auf diese hart an der Grenze der Selbstparodie sich bewegende Wahlwerbung des vormaligen Vizekanzlers sein sollte, die außerhalb der eigenen Bubble auch tatsächlich Spott und Parodien herausforderte,so wäre sie, also die Anspielung, gleich doppelt verfehlt, denn zum einen verfolgen die meisten Deutschen die österreichische Politik nicht genau genug, um den Bezugsrahmen zu kennen, zum anderen ist völlig unklar, was mit dieser Allusion, wenn es denn eine war, genau ausgesagt werden sollte.

Allerdings ist die den Abend eröffnende, bizarre Fahnenwedelei nicht weniger befremdlich als das penetrante Rot von Bühne und Bühnenhintergrund auf die Dauer störend. Es mag als Anspielung auf den gleichen Rotton der Hakenkreuzfahne, die etwa zur Mitte der Aufführung nach erfolgtem „Anschluss“ den österreichischen Bindenschild auf dem Gipfel des Kastengebirges ablöst, eine gewisse Berechtigung haben, wirkt aber über die Strecke des fast zweistündigen Theaterabends einfach nur ermüdend und unangenehm. „Sekkant“ hätte Doderer vielleicht geschrieben.

Verliebt: Tamara Theisen als Anezka und Florian Voigt als Franz Huchel. Foto: Marco Piecuch

Zudem wird es im Laufe des Abends mit den Nebenschwaden dann doch etwas übertrieben. Das Stück spielt in Wien, nicht in London, auch wenn Freud am Ende dahin aufbricht. Freilich: Es sind schlimme, düstere Zeiten, die hier zur Darstellung kommen, und sie werden mit Voranschreiten der Handlung, mit dem schrittchenweisen Herannahen und schließlich der offenen Präsenz des Nationalsozialismus immer düsterer: „In Wien hat es sich ausgetanzt“, sagt Franz Huchel (Florian Voigt) bei ihrem letzten Zusammentreffen, nach dem vollzogenen „Anschluss“, zu Anezka (Tamara Theisen), die ihm zuvor, bei seiner Ankunft in Wien, in der Rolle der kleinen Dame erklärt hatte: „Das ist nicht der Kanal, der da stinkt. Das sind die Zeiten. Faulige Zeiten sind das nämlich.“ Das ist natürlich richtig, und von daher mag die ein oder andere Nebelschwade wabern. Dennoch hätte etwas mehr Wiener Makkart (will heißen: etwas mehr Anschaulichkeit) und etwas weniger Londoner Turner-Nebel (will heißen: etwas weniger Abstraktion und verschwimmende Konturen) der Inszenierung gutgetan.

Dies gilt umso mehr – man entschuldige die Trivialität dieser Feststellung – als die Adaption eines Romans für die Bühne ja immer mit dem Problemchen behaftet ist, dass die Stoffmassen der Epik auf ein Maß zusammengeschmolzen sein wollen, das im Rahmen eines Theaterabends handhabbar ist. Und das bedeutet immer (St-)Raffungen, die es nicht unbedingt einfacher machen, dem Geschehen zu folgen. Wenn man den Roman nicht kennt und den Film nicht gesehen hat, ist es teilweise nicht ganz einfach, bei den raschen Schauplatzwechseln in dem amorphen Kastengebirge der Trierer Inszenierung nachzuvollziehen, wo eine Szene gerade spielt. Ob man gerade in der Trafik, im Prater, bei der Gestapo oder im Varieté ist, muss man aus Kostümen und Dialogen erschließen. Dass ferner die zauberhaften Naturschilderungen, die zu Beginn des Romans dem Attersee und der Landschaft des Salzkammerguts gewidmet sind und in denen Seethalers Prosa fast etwas vom Stifter’schen Zauber annimmt, in der Bühnenfassung kein Pendant haben (können), ist zudem bedauerlich, liegt aber in der Natur der Sache.

Der prominente Kunde wird zum väterlichen Freund und Ratgeber. Foto: Marco Piecuch

Alles in allem scheint manches nicht recht zu passen, wirkt der Abend unrund. Zwar ist Florian Voigt in der Hauptrolle redlich bemüht, dem in den Wirren der Zeiten nach Halt und Identität, Geborgenheit und Liebe suchenden jungen Protagonisten Kontur zu verleihen, aber es ist eben auch dieses Bemühte, Angestrengte, das man ihm allzu oft anmerkt, so wenn er vom Tod des wohl von Rosshuber bei den Nazis angeschwärzten Otto Trsnjek in den Kellern der Gestpo erfährt oder wenn Paul Hess in der Rolle des SS-Offiziers „seine“ Anezka küsst, der er grade noch leidenschaftlich erklärt hatte, dass er mit ihr Durchbrennen will, um irgendwo das kleine Glück mit einer kleinen Trafik zu finden, weitab von den bedrohlichen Entwicklungen der Zeitläufte. Etwas weniger ostentative Erschütterung und Zorn in Mimik und Gestik wäre in diesen Momenten mehr gewesen.

Sehr stark dagegen Klaus-Michael Nix als Sigmund Freud. Schon optisch sieht Nix im Dreiteiler mit goldener Uhrkette und Zigarre dem Vater der Psychonanalyse verblüffend ähnlich. Perfekt verkörpert er die Mischung aus großväterlicher Autorität und souveräner Selbstironie, die höhere Stufen im „Stiegenhaus der Weisheit“ – eine Metapher, die er in einem der Gespräche mit dem Rat suchenden Franz verwendet – erklommen hat. Sehr schön, wie er mit liebevoller Spöttelei die Stirn in Falten legt, wenn Franz ihm von der Rat- und Hilflosigkeit berichtet, die ihn in seiner juvenilen Verliebtheit ankommen, wenn er feststellen muss, dass Anezka sich ihm immer wieder entzieht, sich nicht an ihn binden will. „Mit den Frauen ist es wie mit den Zigarren. Wenn man zu fest an ihnen zieht, verweigern sie einem den Genuss“, erklärt er dem jungen Mann augenzwinkernd.

Arroganz der Macht: Paul Hess verhaftet als SS-Scherge Otto Trsnjek. Foto: Marco Piecuch

Stark auch Tamara Theisen in der Rolle der Anezka. Sie knüpft an ihre hervorragende Performance als Emma in „Kardinalfehler“ in der letzten Spielzeit an (lokalo.de berichtete). Schon damals zeigte sie, dass sie es vermag, Frauengestalten zur verkörpern, die eine eigentümliche Kombination von Härte und Verletzlichkeit in sich vereinen. So auch hier: Als Anezka nimmt sie sich entschieden, was sie haben will, etwa wenn sie den „Burschi“, der ihr nachläuft, recht forsch anweist, ihr ein warmes Essen und ein Glas Wein zu bezahlen, woraufhin sie sich in der folgenden, recht wilden Sexszene gleich den ganzen Burschi nimmt, ohne darauf zu warten, dass der etwa seinerseits, dem traditionellen Rollenmuster entsprechend, die Initiative ergreift. Doch auch die Verwundbarkeit Anezkas, die gezwungen ist, sich in einem äußerst zwielichtigen Milieu durchzuschlagen und fern der Heimat auf sich selbst gestellt ist, gelingt ihr, so zum Beispiel wenn sie einmal mit tiefer Resignation in Gesicht und Stimme seufzt: „Ich gehöre zu keinem, nicht einmal zu mir selbst.“

Der SS-Offizier (Paul Hess) macht Franz Huchel (Florian Voigt) „seine“ Anezka (Tamara Theisen) abspenstig. Foto: Marco Piecuch

Ein toller Bösewicht zudem: Paul Hess als SS-Offizier, „Ziviler“ und Portier im Wiener Gestapo-Hauptquartier. Die verbale und habituelle Brutalität, mit der er bei der Verhaftung Trsnjeks vorgeht, weil dieser „Wichshefln“ (also Pornohefte) an „den Jud“ verkauft haben soll, die Verachtung, mit der er den Satz ausspricht „Für Juden hat es sich endgültig ausgespielt“, als Franz sich von Freud verabschieden möchte und behauptet, er wolle dem kurz vor der Abreise ins Exil stehenden Gelehrten Karten für das Burgtheater bringen, das breitärschige und selbstgefällige Schreibtischtätertum, mit dem er Franz als Portier abweist, als dieser sich wiederholt nach dem in Haft befindlichen Trsnjek erkundigen möchte, all das trägt maßgeblich zur Kernbotschaft des Stückes bei, der Warnung vor der zunächst schleichend und im Verborgenen wachsenden, totalitären Bedrohung, die dann, wenn sie ins Offene tritt, wenn sie die Macht in den Händen hält, blitzschnell mit ungeheurer Grausamkeit und Menschenverachtung gegen ihre Gegner vorgeht.

Und diese Botschaft ist und bleibt ohne Zweifel eminent wichtig, gerade in der heutigen Gegenwart.

weitere Termine: 15.11., 10.00 Uhr und 19.30 Uhr, 15.12., 19.30 Uhr und 17.12., 18.00 Uhr

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