TRIER. Am gestrigen Samstagabend feierte am Theater Trier die „Turandot“ von Giacomo Puccini Premiere, wenige Wochen vor dem 100. Todestag des Komponisten. In einer opulenten Inszenierung mit mächtiger Bildersprache spürt Co-Intendant Lajos Wenzel der Psychologie der Hauptfigur nach. Ein begeistertes Premierenpublikum hörte zudem eine hinreißende Liù, gesungen von Yibao Chen.
Von Alexander Scheidweiler
Die Presseankündigung des Theaters Trier verhieß für die Premiere von Puccinis Letztwerk „Turandot“, die am gestrigen Samstagabend im Großen Haus des Theater Trier in einer Inszenierung von Co-Intendant Lajos Wenzel stattfand, ein „farbenprächtige[s] Spektakel […] mit Wucht, Humor und einem genauen Blick für die Psychologie der Figuren.“ Oder wie es Dramaturg Malte Kühn in einem Theatermagazinbeitrag formulierte: „Monumentale Bilder, tragische Wucht und vielschichtige Charaktere“. Und diese Ankündigungen waren nicht übertrieben! Das sichtlich begeisterte Trierer Opernpublikum sah eine durchdachte, detailfreudig ausgefeilte und packende Inszenierung dieses beliebten Opern-Klassikers des legitimen Erben Verdis, wie Kühn Puccini so treffend nennt. Hinzu kam eine herausragende Liù, gesungen von Yibao Chen, die mit vollem Recht schon im ersten Akt für ihr „Signore, ascolta!“ und damit für das erste Arien-Highlight des Abends fast schon frenetischen Szenenapplaus erhielt.
Treten wir einen Schritt zurück: Das gegenwärtige Puccini-Jahr – der 100. Todestag des Maestros ist nur noch knapp drei Wochen entfernt – brachte dem internationalen Opernpublikum erwartungsgemäß ja bereits einige Neuinszenierung der „Tudandot“, in der der Lucceser Meister klanglich so ungewöhnlich moderne Wege beschritt und auch inhaltlich als Protagonistin eine Frauengestalt auf die Bühne brachte, die sich von den hingebungsvollen Dulderinnen, die den Kosmos seines Werkes ansonsten bevölkern – man denke etwa an Mimì „La Bohème“ und Minnie in der „Fanciulla“ – als (scheinbar) eiskalte Femme fatale deutlich unterscheidet. Oft und so auch in der Trierer Inszenierung hat man sich Fragen gestellt mit Blick auf die rasche Wendung der Titelfigur von der männermordenden Furie zur liebenden Braut in spe im dritten Akt – indes im Märchen bedarf es der psychologischen Plausibilität nicht. Und das Märchenhafte des hier verarbeiteten und nach China verpflanzten 1001-Tag-Stoffes (nicht: 1001-Nacht-Stoffes) mit der „Ach-wie-gut-dass-niemand-weiß“-Motivik des unbekannten Namens Calafs sollte man umso weniger übersehen, als die „Turandot“ bekanntlich auf einer Commedia dell’arte-Vorlage des Grafen Gozzi fußt, der seine zwischen Komik und Tragik so eigentümlich sich hin- und herbewegenden Stücke als „Fiabe teatrali“, theatralische Märchen also, zu benennen pflegte. Ja, vielleicht hat sich überhaupt nie ein Autor radikaler zur literarischen Phantastik bekannt und allem (vor-)bürgerlichen „Realismus“ eine deutlichere Ab- , wo nicht Kampfansage gemacht als Gozzi in der Vorrede zum „König Hirsch“, der Hans Werner Henze zu dessen gleichnamiger, 1956 uraufgeführter Oper inspirierte, wie das Programmheft des Theaters Trier verdienstlicherweise erwähnt.
Nun liegen zwischen dem Ableben des venezianischen Aristokraten und demjenigen des Komponisten aus der Toskana gute hundert Jahre, fast das ganze „Long 19th Century“ und noch ein bisschen mehr. Als Gozzi 1806 starb, hatte Napoleon gerade die Schlacht von Austerlitz gewonnen und die Welt des alteuropäischen Adels und seiner Kultur brach auseinander – als der Tod Puccini über dem dritten Akt der „Turandot“ die Feder aus der Hand nahm, wurde Italien seit zwei Jahren von Mussolini regiert und Siegmund Freud hatte gerade sein bahnbrechendes Buch über die Welt der Psyche, „Das Ich und das Es“, veröffentlicht. Dieses gute Jahrhundert zwischen dem Tod der beiden Künstler, deren Werkwelten durch den Turandot-Stoff geheimnisvoll – und über einen Schiller’schen Zwischenschritt, den wir jetzt aus Platzgründen aussparen – verbunden sind, zeugt auch vom Weg weg von der Sinnmaschine einer im Kern christlich-patristischen Tugendethik hin zur Introspektion und Selbst-Erklärung durch Inspektion der Entstehungsgeschichte des eigenen seelischen Narbengewebes: Geht es bei Gozzi darum, am Beispiel der Turandot das augustinische Thema des Gegensatzes von Hochmut/Hass versus Demut/Liebe durchzudeklinieren, so präsentieren Puccinis Librettisten Guiseppe Adami und Renato Simoni die Protagonistin als Trägerin eines generationenübergreifenden Traumas weiblicher Gewalterfahrung, das nur durch authentische, ja opferbereite Liebe erlöst werden kann.
Darin – also in Turandot als Trägerin des generationenübergreifenden Traumas – liegt übrigens auch die Abgründigkeit, dass die Rolle der Eisprinzessin, die Turandot mehr spielt als tatsächlich ist, maskenhaften Charakter hat, womit die Figurenpsychologie für eine Vertiefung des Maskenbegriffes fruchtbar gemacht wird, der für die Commedia dell’arte-Tradition, in der die Gozzi’sche Vorlage steht, so zentral ist.
Wenzel hat dies messerscharf erkannt und gibt sich mit der im Märchen nicht weiter erklärungsdürftigen, abrupten Wendung nicht zufrieden, sondern versucht, die Wandlung der Hauptfigur plausibel zu motivieren. Er bedient sich hierzu eines ähnlichen Kunstgriffes, wie ihn Jean-Claude Berutti bei seiner Open Air-„Carmen“ auf dem Augustinerhof im Juli eingesetzt hatte: Ein Mädchen in blutrotem Kleid, gleichsam das fast schon redensartlich nach Heimat suchende, innere Kind der Protagonistin, fungiert als Verkörperung des Traumas, das Turandot befrieden muss. Deutlich wird das nicht zuletzt beim „In questa reggia“, jener vom Komponisten zentral im zweiten Akt platzierten Groß-Arie, gewissermaßen – um einen „Lohengrin“-Vergleich zu ziehen – die Schlüssel- und Gralserzählung Turandots, die den Zuhörer in das ferne Land der fast schon mythischen Erinnerung mitnimmt, aus der ihr die Erinnerung an die „liebliche und heitere Ahnin“ („ava dolce e serena“) Lu-o-ling und deren Schändung und Tötung durch einen fremden Prinzen zukommt. Mit ihr identifiziert sie sich: Lu-o-lings Schrei, der Geschlecht um Geschlecht durchquert habe, habe in ihrer, in Turandots Seele Zuflucht gefunden („E quel grido, traverso stirpe e stripe, / Qui nell’anima mia si rifugio!“).
Camila Ribero-Souza, als Trierer Turandot in ihrem samtroten Mantel eine geradezu hoheitsvolle Erscheinung, trägt die Zentral-Arie nicht nur sicher und mit der nötigen Kühle vor, sondern läßt zugleich gekonnt die Fragilität der Figur im feinen Vibrato mitschwingen. Dabei umarmt sie, auf einer gewaltigen Treppe im Mittelgrund der Bühne stehend, das Mädchen mit dem blutigen Kleid, drückt es ganz fest an sich und macht sich so die Verletzung der Ahnin zueigen – ein ungeheurer Opern-Moment! Doch die Bewältigung des Traumas setzt nun einmal voraus, auch loslassen zu können, ins Reine zu kommen, und Kontrolle zu gewinnen: Erst ganz am Ende wird Turandot das Mädchen an die Hand nehmen und so das Trauma bemeistern, kurz bevor sie ausspricht, der Name des fremden Prinzen sei Liebe. Die vermeintlich abrupte Wandlung der Hauptfigur, sie wird in Wenzels Inszenierung so in ein schlüssiges Narrativ der psychischen Katharsis, an deren Ende die Öffnung für die authentische Liebe steht, eingebettet und verständlich gemacht. In einem gewissen Spannungsverhältnis dazu steht allerdings das doch arg nassforsche, um nicht zu sagen, übergriffige Auftreten Calafs (Gustavo Mordente Eda), der die sich sträubende Turandot im dritten Akt am Arm packt und über die Bühne zerrt. Wenn der wenig später Geliebte so brachial daherkommt, konterkariert dies freilich bis zu einem gewissen Grade die skizzierte Plausibilisierung von Turandots Wandlung.
Dabei wartet die Inszenierung, wie angedeutet, kontinuierlich mit spektakulären Bilderwelten von düster-phantastischer Eindrücklichkeit, packender Dynamik und imposanter Monumentalität auf und übersetzt so die Vielschichtigkeit von Handlung und Figuren in Schauwerte. Hoch aufragende Ziegelmauern in erdigem Rotton rechts und links auf der Bühne erinnern ebenso von ferne an die aus Film und Fernsehen bekannte Optik der verbotenen Stadt, in der die Handlung angesiedelt ist, ebenso wie die mächtige Treppe im Hinter- und Mittelgrund des zweiten und dritten Aktes, während im ersten eine Empore im Hintergrund teils für den Chor, teils für ein erstes Vorüberschreiten der majestätischen Turandot Ribero-Souzas genutzt wird, in die Calaf sich dann auch pflichtschuldigst prompt verguckt. Projektionen des Mondes, der sich bei den Warnungen Pings, Pangs und Pongs vor den Gefahren der Rätselfragen zum Totenschädel wandelt, und des Sternenhimmels, der so prominent im „Nessun dorma“ angesprochen wird, auf die Rückwand der Bühne unterstreichen die kosmische Dimension des Geschehens. Diese will angesichts des mythischen Unterfutters des Turandot-Stoffes freilich immer mitgedacht sein: Der namenlose, fremde Sternenprinz, der die sich auf ihre Reinheit berufende, jungfräuliche Mond-Prinzessin freit – viel mythischer kann man eine Liebesbeziehung nicht mehr rahmen, wenn man von der „Walküre“ vielleicht mal absieht.
Wahnsinn auch, wie Calaf in Wenzels Inszenierung in der Rätselszene die Fragen Turandots in einem Feuer-Viereck, gebildet aus einem brennenden Geländer, stehend beantworten muss, während nach jedem gelösten Rätsel die Blätter mit den Fragen von Ping, Pang und Pong in Brand gesetzt werden und in einer Stichflamme verglühen. Eine mächtige Flammen-Symbolik, die fast schon artistischen Charakter hat, und die Spannungsgeladenheit der Situation tief in die Seele dringen lässt!
Überhaupt: Die drei Spaßmacher! Sie tragen in der Trierer Inszenierung Masken, was eine schöne Reverenz an die Vorlage darstellt, sind sie doch aus Truffaldino, Brighella, Tartaglia und Pantalone hervorgegangen, den überlieferten Spaßmachern der Commedia dell’arte, die Gozzi in seiner „Turandot“ breit einsetzt. In Trier sind sie mit Yuriy Hadzetskyy (Ping), Derek Rue (Pang) und Victor Campos-Leal (Pong) glänzend besetzt und zeigen sich äußerst spielfreudig, das teils tragische Geschehen v.a. im ersten und im dritten Akt auflockernd, in denen sie in Frack, Zylinder und mit langnasigen Masken versehen auftreten und bei dem Versuch, Calaf von seinem Vorhaben abzubringen, diesen mit grotesken Bewegungen umkreisen, die an jene berühmten Kupferstiche Callots erinnern, die schon den Dichter-Komponisten E.T.A. Hoffmann so faszinierten. Besonders in der kleinen Heimat-Reverie zu Beginn des zweiten Aktes, in der sie sich in eine heile Welt hineinträumen, setzen sie auch sängerisch Akzente, v.a. Hadzetskyy, dem Momente von lyrisch-meditativer Schönheit gelingen, so beim „Ho una casa nell’Honan con il suo laghetto blu“ („Ich habe ein Haus in Honan mit einem kleinen blauen See“).
Gerade in diesen meditativeren Momenten zeigt auch das Philharmonische Orchester der Stadt Trier unter der Leitung von Generalmusikdirektor Jochem Hochstenbach, das die doch etwas idiosynkratisch-avantgardistische Partitur tadellos darzubieten weiß, seine Klasse mit einem differenzierten Pastell der klanglichen Farbpalette. Und während Ping, Pang und Pong sich in die Heimat zurücksehnen, fernab von den schrecklichen Geschehnissen am Kaiserhof, legen sie die „offiziellen“ Gewänder an, in denen sie in der Rätselszene ihrer Ämter walten werden, und die durch eine eher samuraiartige Optik gekennzeichnet sind. Ganz generell merkt man auch den Kostümen von Eric Chevalier an, dass hier viel Liebe zum Detail darauf verwandt wurde, ein stimmiges Konzept zu entwickeln, das „den hohen Anspruch an die Ausstattung der Inszenierung“ einlöst, den Chevalier in einem Beitrag im Theatermagazin formuliert hat.
Wie eingangs erwähnt, verdient Yibao Chens Leistung ein Sonderlob. Nicht nur mit ihrem „Signore, ascolta!“ im ersten Akt, sondern auch mit der beeindruckenden Todesarie des dritten Aktes knüpfte sie an ihre starke Leistung als Micaëla in der „Carmen“ im Sommer an: Beschwörend, zart und verletzlich fleht sie Calaf im „Signore, ascolta!“ an, von seinem gefahrvollen Vorhaben abzustehen; mit einer Emotionalität, in der Entschlossenheit, Entsagung und Begehren sich die Hand reichen, zaubert sie in der Todesarie mit ihrem warmen, ausgewogenen lyrischen Sporan dunkel leuchtende Klangjuwelen hervor. Eine ergreifende Performance, die das Trierer Publikum mit verdientermaßen besonders intensivem Szenen- und Schluss-Applaus würdigte.
Im Vergleich fiel der Calaf Gustavo Mordente Edas jedenfalls zu Beginn etwas ab, indem er auf das „Signore, ascolta!“ nicht mit einem gleichermaßen überzeugenden „Non piangere, Liù!“ zu antworten vermochte. Indes, er steigerte sich zusehends und sang ein heroisches und ausdrucksvolles „Nessun dorma“, für das er ebenfalls viel Applaus bekam.
Karsten Schröter spielte und sang einen Timur, der noch als entthronter König mit Haltung und kraftvollem Bass Autorität ausstrahlt, während Sergej Snegirev in der Rolle des Altoum im Vergleich eher blass blieb.
Opern-, Extra- und Jugendchor des Theaters Trier unter der Direktion von Martin Folz präsentierten sich exzellent einstudiert und trugen in den Massenszenenen maßgeblich zur Momunentalität der Inszenierung bei.
Mit dieser in ihrer durchdachten Konzeption, ihrem monumentalen, beeindruckenden Bühnenbild, ihren stimmigen Kostümen und ihrer hervorragenden musikalischer Qualität bemerkenswerten Inszenierung macht Lajos Wenzel dem Trierer Opernpublikum einen musikdramatischen Schatz zum Geschenk – und er macht Lust auf die weiteren Opern-Highlights, die mit „Così fan tutte“, „Ariadne auf Naxos“ und „L’elisir d’amore“ in dieser Spielzeit noch kommen werden.
weitere Termine: 16.11.2024, 19.30 Uhr, 10.12.2024, 19.30 Uhr, 29.12.2024, 16.00 Uhr und 12.1.2025, 18.00 Uhr
Frage: wurde der Kaiser nicht von Roman Ialcic statt n Sergej Snegirev gespielt?