TRIER. Am gestrigen Samstagabend erlebte Tennessee Williams’ „Endstation Sehnsucht“ am Theater Trier seine Premiere. Die Inszenierung von Harald Demmer nimmt den Zuschauer gekonnt und in sehr dichter Atmosphäre mit in die Welt eines modernen Klassiker des amerikanischen Theaters, der einige der ganz großen Menschheitsthemen aufs Tapet bringt. Dabei sah das Premierenpublikum insbesondere von Stephanie Theiß in der weiblichen Hauptrolle der Blanche DuBois eine überragende schauspielerische Darbietung.
Von Alexander Scheidweiler
Als Stephanie Theiß zum Schlussapplaus die Bühne betritt, erheben die Zuschauer im Großen Haus des Theaters Trier sich von den Sitzen – und zu Recht! Die Schauspielerin hat in den zurückliegenden zweieinhalb Stunden in der Rolle der Blanche DuBois bei der gestrigen Premiere von Tennessee Williams’ „Endstation Sehnsucht“ eine geradezu bewegende Performance geboten. Das Premierenpublikum merkt und goutiert: Hier hat eine Aktrice wirklich alles gegeben! Beim Hinausgehen wird eine Dame aus der Sitzreihe hinter dem Verfasser dieser Zeilen zu ihrem Begleiter sagen, am Ende sei sie zu Tränen gerührt gewesen. Und der Nebensitzer des Verfassers meinte schon nach der Pause, in Anbetracht der dichten Atmosphäre wäre es ihm lieber gewesen, es hätte gar keine Pause gegeben.
Natürlich ist das Stück, das am Theater Trier in einer Inszenierung von Harald Demmer zu sehen ist, ohnedies nicht nur ein Klassiker des modernen amerikanischen Dramas, sondern ohnedies von einer ungeheueren, elektrisierenden, jederzeit in Gewitterschlägen sich zu entladen drohenden Spannung durchzogen, einer Spannung, die sich wesentlich aus dem unüberbrückbaren, auf eine Katastrophe zusteuernden Gegensatz zwischen der kultivierten, aber gescheiterten und mittellosen, alternden Südstaaten-Schönheit Blanche aus der Pseudo-Aristokratie der Großgrundbesitzer und ihrem vital-ungeistigen, aus der Arbeiterschaft stammenden, auf archaische Weise machohaft daherkommenden Schwager Stanley Kowalski speist. Jonas Gruber spielt ihn in der Trierer Inszenierung als unsympathischen, ständig Bier saufenden Haustyrannen mit zurückgegelten Haaren, den nun wirklich niemand lieben kann, außer seiner Frau Stella (Isa Weiß), der jüngeren Schwester Blanches – und die liebt an ihm v.a. seine animalische Triebhaftigkeit und physische Potenz, wie schnell deutlich wird. Seine stets unter der Oberfläche brodelnde Gewaltbereitschaft entlädt sich mal an seiner Frau, mal an Blanche selbst. Zusammengezwungen im Theater-Labor der Kowalski’schen Zweizimmerwohnung in New Orleans, in der Blanche nach dem Verlust des familiären Landgutes Belle Reve Zuflucht sucht, während sie krampfhaft bemüht ist, die Fassade der Lady aus der Oberschicht aufrechtzuerhalten, rasen Blanche und Stanley wie zwei Züge aufeinander zu, bis hin zur brutalen Vergewaltigung Blanches gegen Ende und dem darauffolgenden psychischen Zusammenbruch. Man kennt das – wenn nicht aus dem Theater, so aus der klassischen Verfilmung mit Marlon Brando und Vivien Leigh aus dem Jahre 1951.

„Ich will keinen Realismus, ich will Zauber“, sagt Blanche, als Stanley ihr sorgfältig gepflegtes, aber längst auf keinem realen Fundament mehr ruhendes Selbstbild als große Dame, ihre ewigen Geschichten von Verehrern, die sie auf Kreuzfahrten einladen wollen und über märchenhaften Öl-Reichtum verfügen, schonungslos als (Selbst-)Betrug entlarvt. Zauber steckt aber dennoch ohne Zweifel im Mythos der „Southern Belle“, der Südstaaten-Schönheit aus besserem Hause, ein Mythos, der durch Film und Fernsehen auch in Deutschland Gemeingut wurde, von Scarlett O’Hara in „Vom Winde verweht“ über Ashton Main in „Fackeln im Sturm“ bis zu verprollten Schwund- und Schundstufen wie Jessica Simpson in Hot Pants und rosafarbenem Bikini als Daisy Duke im „Dukes of Hazzard“-Remake. Sicher: „Endstation Sehnsucht“ wurde 1947 am Broadway uraufgeführt und da war der „alte Süden“ der Zeit vor dem Bürgerkrieg schon längst nur noch eine ferne Erinnerung. Doch der Mythos der Southern Belle blieb, als Teil der großen Erzählung vom „Lost Cause“. In der hohen Literatur hat F. Scott Fitzgerald, dessen Frau Zelda als Southern Belle gelten darf, diesem Frauentypus zwischen Mädchenhaftigkeit und lasziver Erotik, oberschichtiger Kultiviertheit und ererbtem Standesdünkel in der Erzählung „Die letzte Schöne des Südens“ („The Last of the Belles“) ein autobiographisch gefärbtes Denkmal in der Figur des Soldatenschwarms Ailie Calhoun aus der erfundenen Garnisonsstadt Tarleton in Georgia gesetzt:
„Sie besaß jene mit anmutiger, redseliger Naivität versüßte Gewandtheit, die eine tief in den heroischen Süden zurückreichende Vergangenheit fürsorglicher Väter, Brüder und Verehrer ahnen ließ, jene makellose, im Ringen mit der ewigen Hitze erworbene Kühle. Es gab Töne in ihrer Stimme, die Sklaven herumkommandierten und Yankee-Offiziere erblassen ließen, aber auch schmeichelnde Töne, die sich in ungewohnter Lieblichkeit mit der Nacht vermischten.“
Doch was, wenn es diese „gute alte Zeit“, die sowieso bei genauerer Betrachtung so gut nicht war (Sklaverei!), und dieses soziale Umfeld „fürsorglicher Väter, Brüder und Verehrer“ nicht mehr gibt? Wenn das gesellschaftliche Biotop sich aufgelöst hat? Die Geschichte darüber hinweggegangen ist? Dies ist ja die Situation der Blanche DuBois, die sich, des Landguts verlustig, nun in bedeutend einfachere, als nicht standesgemäß empfundene Lebens- und Wohnverhältnisse versetzt findet.
Und genau an diesem Punkt hat Stephanie Theiß auch einen ihrer besten von vielen großartigen Momenten an diesem Abend, gleich zu Beginn, wenn Blanche ihrer Schwester den Verlust von Belle Reve eingestehen muss. Die Aggressivität, mit der sie Stella dafür attackiert, das familiäre Gut verlassen zu haben und in die Stadt gegangen zu sein – und ins Bett mit ihrem „Polacken“, wie sie Stanley abwertend nennt – dieser ohnmächtige Zorn, den Theiß Blanche in dieser Szene verleiht, er schreit die ganze aufgestaute Verzweiflung über das Zerbrechen einer Welt hinaus, die ihr Heimat war, und ohne deren Schutz und Gehäuse sie existentieller Furcht ausgeliefert ist. Der Angriff auf die gänzlich schuldlose Schwester als Überspielen einer Selbstzerfleischung, die aus dem Wissen entsteht, den Niedergang, der durch die Disziplinlosigkeit mehrerer Generationen der Männer ihrer Familie herbeigeführt wurde, nicht aufgehalten zu haben, nicht fähig gewesen zu sein, ihn aufzuhalten.

Und wie charmant diese Blanche DuBois doch zugleich noch immer zu flirten und die Männer – einige jedenfalls – um den Finger zu wickeln weiß! Die Szenen mit Stanleys Poker-Kumpel und Arbeitskollegen Harold „Mitch“ Mitchell sind ganz bezaubernd. Theiß ist mal der Vamp, der den gutherzigen Mitch nachgerade am Gängelnd führt, dann aber auch wieder ein verletzliches Mädchen, das vielleicht nicht nur zum Schein um seinen in Wahrheit nicht mehr vorhandenen guten Ruf besorgt ist, sondern weil sie, wie sie versichert, Werte und Ideale hat, an denen sie, allen Widrigkeiten und Widersprüchen des Lebens zum Trotz, festhält. Dabei ist auch Martin Geisen in der Rolle des Mitch eine hervorragende Besetzung: Die ein wenig fragile Virilität, die fast feminine Fürsorglichkeit der Figur – Mitch kümmert sich rührend um seine sterbenskranke Mutter – transportiert Geisen großartig – sie bildet in der Konstellation des Stückes den wohltuenden Kontrapunkt zu den polternden Kraftmeiereien von Stanley. Wie von alleine gewinnt man den Eindruck, dass nicht nur die beiden Figuren, sondern auch die beiden Schauspieler perfekt harmonieren. Wie sehr wünschten wir uns als Zuschauer, dass diese zwei ein Paar werden: Alles würde gut, Blanche wäre versorgt, Stella und Stanley hätten die durch Blanches Aufenthalt in ihrer kleinen Wohnung praktisch nicht mehr vorhandene Privatsphäre zurück und Mitch hätte jemanden, der ihn über den absehbaren Verlust seiner geliebten Mutter hinwegtrösten würde. Hollywood-Happy End. Geigenmusik. Dann Familienfeier mit Kindern im zweiten Teil. „Endstation Sehnsucht II – Das Familientreffen“. Mit einem etwas spleenigen Onkel als komischer Nebenfigur. Doch es muss anders, tragischer kommen.
Und wie virtuos kehrt Theiß dort, ganz am Ende, noch eine andere Facette der Figur hervor, wenn Blanche sich, nach der Vergewaltigung und dem Zerbrechen ihrer Hoffnungen auf eine Zukunft mit Mitch, nach heftigem, lautstarkem, zeterndem Sträubten sanft wie ein Lämmchen in ihr Schicksal fügt, als Krankenschwester und Nervenarzt sie abholen, die gebrochene Frau, die sich noch einmal für den imaginären, reichen Verehrer, der nicht kommen wird, schick gemacht hat, von der Bühne führen. Sie habe sich immer auf die Güte von Fremden verlassen müssen, sagt sie sanft – und wie sie das sagt, das ist wahrhaft herzzerreißend, ohne doch in Kitsch abzugleiten.
Das ansprechende Bühnenbild der Trierer Inszenierung unterstützt dezent den Zauber, der die Gestalt der Blanche umweht, ebenfalls ohne kitschig zu werden. Die Bühne stellt das Heim der Kowalskis vor, wobei die charakteristische Holzrahmenarchitektur der US-Vorstädte angedeutet wird. Offen und licht erscheint das kleine Heim, mit einem Arrangement aus Kühlschrank, Sofa und Couchtisch rechts, einem Servierwagen mit Spirituosen im Hintergrund, an dem Blanche sich im Laufe des Abends reichlich bedient, links das improvisierte Klappbett für die überraschend zu „Besuch“ gekommene Schwägerin sowie ein rudimentärer Kleiderständer, der u.a. Stanleys Bowling Shirts beherbergt. Drei Stufen führen von der Bühne auf den abgedeckten Orchestergraben herab, so dass der Vordergrund den Charakter einer „porch“, der typischen Veranda amerikanischer Häuser, gewinnt. Das Ganze wirkt proper und modern und hat gleichzeitig einen subtilen Retro-Charme. Je nach Lichtregie kann es aber auch kahl und leer wirken, in düsteren Momenten, wenn Blanche die Aussichtslosigkeit ihrer Lage bewusst wird.

Die Optik schwankt so zwischen der heimeligen Doris-Day-und-Rock-Hudson-Idyllik eines Norman-Rockwell-Gemäldes einerseits und der unterkühlten Melancholie und dem Einsamkeits-Pathos von Edward Hopper andererseits. Im Hintergrund der Bühne flackert der Schriftzug „Endstation Sehnsucht“ in Neon-Buchstaben, Symbol der gewitterschwangeren Spannung, die stets mit Händen zu greifen ist. Die Musik spielt in „Endstation Sehnsucht“ zudem eine große Rolle, wobei die Blues- und Polka-Melodien, die Williams’ Regieanweisungen vorsehen, in Trier durch zeitgemäßere, rockige Gitarrenriffs und harte Beats ersetzt wurden. Als raffinierte Sound-Symbolik umspielen sie das Geschehen, am markantesten das brutale Hämmern während der Vergewaltigungsszene.
Die Trierer Inszenierung von „Endstation Sehnsucht“ nimmt den Zuschauer so gekonnt und in sehr dichter Atmosphäre mit in die Welt eines modernen amerikanischen Klassikers, der einige der ganz großen Menschheitsthemen aufs Tapet bringt: Verlust und Verzweiflung, neu aufkeimende Hoffnung und ihr Zerbrechen, Liebe und Sex, Gewalt, Wahnsinn und Tod – alles angesiedelt im Laboratorium der Kowalski’schen Zweizimmerwohnung, wo die Versuchsanordnung der Figurenkonstellation nach und nach immer explosiver wird. Dabei brilliert Stephanie Theiß als überragende Blanche DuBois, aber auch Jonas Grubers Stanley Kowalski als biersaufender Haustyrann weiß voll und ganz zu überzeugen, gerade weil er so unsympathisch rüberkommt, ebenso wie der fürsorglich-verletzliche „Mitch“ Mitchell von Martin Geisen, sein positives Widerbild. Solide auch Isa Weiß als verliebte Stella, die der archaischen Virilität von Stanley verfallen ist und ihm daher all seine brachialen Übergriffigkeiten blauäugig nachsieht, sowie Tamara Theisen in der Nebenrolle der hilfsbereiten Nachbarin Eunice, die sie irgendwie trashig, aber doch liebenswert zu verkörpern weiß. Ein großes amerikanisches Drama, dessen Besuch sehr zu empfehlen ist.
weitere Termine: 17.3., 26.3., 4.4. und 20.5., jeweils 19.30 Uhr