„Ne Schippe drauflegen“: Christian Wulff sprach in der Bürgerkirche St. Gangolf Trier

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Pfarrer Dr. Markus Nicolay (links) und der Vorsitzende des Kuratoriums Markt- und Bürgerkirche, Bernhard Kaster (rechts), überreichen Bundespräsident a.D. Christian Wulff (Mitte) eine Gangolf-Fliese als Präsent. Foto: Alexander Scheidweiler

TRIER. Im Rahmen der Reihe „Forum Bürgerkirche“ war am gestrigen Abend Altbundespräsident Christian Wulff in der Kirche St. Gangolf in Trier zu Gast. Vor zahlreichen interessierten Zuhörern sprach Wulff über das Thema „Liebe und Hass – Gedanken zur Demokratie“. Wulff legte dabei ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Engagement für die Demokratie in schwierigen Zeiten ab.

Von Alexander Scheidweiler

Zahlreiche Zuhörer waren am gestrigen Abend in die Markt- und Bürgerkirche St. Gangolf, deren laufende Renovierung kontinuierliche Fortschritte macht, geströmt, um im Rahmen der Reihe „Forum Bürgerkirche“ den Vortrag von Bundespräsident a.D. Christian Wulff zum Thema „Liebe und Hass – Gedanken zur Demokratie“ zu hören.

Nach der Begrüßung durch den Landesbeauftragten der Konrad-Adenauer-Stiftung, Philipp Lerch, nutzte der Vorsitzende des Kuratoriums Markt- und Bürgerkirche St. Gangolf, Bernhard Kaster, die Gelegenheit, um im Rahmen seines Eröffnungsimpulses dem ebenfalls anwesenden Trierer Oberbürgermeister Wolfram Leibe nicht nur zur unlängst erfolgten Wiederwahl zu gratulieren, sondern auch augenzwinkernd an das Wahlversprechen zu erinnern, dass die Stadt Trier auch künftig den finanziellen Beitrag von 17 Euro pro Jahr zum berühmten Läuten der Lumpenglocke leisten werde. Dies sei sicherlich ein wesentlicher Grund für die Wiederwahl Leibes gewesen, meinte Kaster ironisch.

Kaster bekräftigte die Absicht des Kuratoriums, die Trierer Bürgerkirche schon während der laufenden Renovierung „Stück für Stück den Bürgern zurückzugeben“ und verwies auf zu diesem Zweck auf bereits durchgeführte Kulturveranstaltungen, etwa im Rahmen des Mosel Musikfestivals. Auch wenn die bei den Trierern äußerst beliebte Kirche St. Gangolf „immer die Kirche des Gebets, der Stille und des Rückzugs aus dem Trubel der Innenstadt“ bleiben werde, so sei der Ort doch zugleich aus zwei Gründen besonders angemessen für einen Vortrag über Herausforderungen und Perspektiven der Demokratie, erläuterte Kaster.

Bernhard Kaster beim Eröffnungsimpuls. Foto: Alexander Scheidweiler

Zum einen sei die Stadtkirche sei jeher „Symbol für eine selbstbewusste, freiheitliche Bürgergesellschaft“ gewesen, mithin „Kirche der kommunalen Selbstverwaltung“ und durch ihre enge Verbindung zu den Handwerkerzünften sowie als Marktkirche Kirche der Wirtschaft, des Handels und des Handwerks. Zum zweiten ist St. Gangolf letzte Ruhestätte des „heimlichen Trierer Heiligen“ Hieronymus Jaegen, dessen Vita als Mystiker und Abgeordneter im Preußischen Landtag die Brücke zwischen christlichem Glauben und christlichen Werten einerseits und der Sphäre der Politik anderseits schlägt.

Der Altbundespräsident begann seinen Vortrag mit dem Hinweis, das Ziel seiner Ausführungen bestehe darin, dass die Anwesenden am Ende des Abends mit dem Gefühl nachhause gehen: „Wir müssen alle noch `ne Schippe zulegen, wir müssen alle noch ein bisschen mehr machen, als wir sowieso schon machen, weil die Zeit einfach danach verlangt.“ Angesichts der vielen negativen Entwicklungen, die die Menschen allabendlich in der Tagesschau sehen wie Pandemie, Energiekrise, Klimawandel und Krieg gegen die Ukraine, wachse die Verunsicherung, die der Nährboden sei, „auf dem Furcht oder sogar Hass sich schüren lassen.“ Viele Menschen hätten das Gefühl, dass die Dinge besser werden müssten, so Wulff. Allein: „Nichts wird besser, wenn Leute sagen: ‚Es muss besser werden‘ oder ‚So kann es nicht weitergehen‘. Es wird ausschließlich dann besser, wenn viele etwas dafür tun, dass es besser wird.“

In der Folge entwickelte der Bundespräsident a.D. einen leidenschaftlichen Appell zu mehr bürgerschaftlichem Engagement, ausgehend von der Beschreibung des wachsenden Verdrusses über den Zustand der Demokratie in Deutschland und die populistischen Bedrohungen, denen sie ausgesetzt ist. Nicht nur sei es ein Alarmsignal, dass exakt 100 Jahre nach der Ermordung Walter Rathenaus, Mussolinis Marsch auf Rom, Stalins Aufstieg zum Generalsekretär der KPdSU und dem griechisch-türkischen Krieg in Italien eine Post-Faschistin zur Regierungschefin gewählt wurde, Wladimir Putin sich auf den mörderischen Sowjetdiktator berufe und die Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei in der Ägäis zunähmen, auch treibe ihn der Mangel an Begeisterung für die Demokratie in Deutschland, die mangelnde Dankbarkeit für ihre Errungenschaften um und besorge ihn, sagte Wulff. Dies sei umso betrüblicher, als „seit dem Zweiten Weltkrieg Großartiges geschafft“ wurde. Wulff nannte die historisch einmalige, 77-jährige Friedenszeit auf deutschem Boden, den föderalen Bundesstaat, eine liberale, weltoffene Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, gute Beziehungen zu allen Nachbarstaaten und die europäische Integration.

Der vormalige Bundespräsident warnte davor, dass sich immer mehr Menschen dem demokratischen Gemeinwesen entzögen, wodurch diesem die Lebenskraft abhanden komme. Wulff beklagte in diesem Zusammenhang sinkende Mitgliederzahlen bei wichtigen Institutionen wie demokratischen Parteien, Kirchen und Gewerkschaften und zitierte eine neuere Allensbach-Studie, die belegt, dass 31% der Deutschen der Ansicht sind, wir lebten nur scheinbar in einer Demokratie, in Westdeutschland 28%, in Ostdeutschland gar 45%. Dies bewege ihn besonders, da er selbst „seit Jahrzehnten durch alle Dörfer“ gefahren sei und „an jeder Milchkanne Halt gemacht“ habe, um möglichst viele Menschen zu überzeugen.

Altbundespräsident Christian Wulff spricht. Foto: Alexander Scheidweiler

Unter Berufung auf US-Präsident Joe Biden und dessen warnende Worte zum Jahrestag des Sturmes auf das Kapitol mahnte Wulff: „Demokratie braucht Demokraten.“ Für die Generation seiner Eltern sei die entscheidende generationelle Aufgabe der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, für seine eigene Generation war es die Gestaltung der Wiedervereinigung, nunmehr sei die große Aufgabe die Organisation des Zusammenhaltes der einer liberalen, offenen Gesellschaft. Dabei erweist sich, dass mit dem Aufkommen der sozialen Medien die Gefahr, sich in Echokammern einzuschließen, die stets nur die eigen Meinung bestätigen, zunimmt. Eminent wichtig sei daher, die Medienkompetenz der jungen Generation zu stärken, sagte der Altbundespräsident.

Auch den Kirchen wachse eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung des demokratischen Gemeinwesens zu. Wulff wies darauf hin, dass sich nirgendwo in Deutschland so viele Menschen zusammenfinden wie am Sonntagmorgen beim Gottesdienst. Kirchen seien somit „Räume für Gemeinschaft, für Zusammenhalt“. Die Politik müsse „differenzierte Antworten auf komplexe Herausforderungen“ geben, z.B. durch einen effizienteren Staat und eine nachhaltigere Organisation der Wirtschaft. Richtschnur ist dabei die Ordnung einer offenen Gesellschaft, die sicherstelle, dass niemand Angst haben müsse, wenn er seine Meinung sage, seinen Glauben auslebe, anders als andere sei. Zudem brauche es eine Debatte darüber, „was uns im Kern zusammenhält – unsere gemeinsame deutsche Sprache, unsere Geschichte, unsere Werte, unsere Verfassung“. Nach den Verbrechen des Nationalsozialismus sei 1949 mit dem Grundgesetz ein Neuanfang gewagt worden, „der wirklich zukunftsträchtig ist.“

Wulff rief dazu auf, den Beitrag von Migranten zur deutschen Gesellschaft wertzuschätzen und hob hier besonders die Leistung der Biontech-Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci hervor. Der Bundespräsident a.D. forderte ambitionierte Veränderungen mit Ideenreichtum und zitierte abschließend Hieronymus Jaegen mit den Worten: „Jeder Christ hat die Möglichkeit, die Welt menschlicher zu gestalten.“ Radikale hingegen verwandelten Nächstenliebe in Hass.

Zuhörer und Zuhörerinnen finden sich ein. Foto: Alexander Scheidweiler

Pfarrer Dr. Markus Nicolay dankte Wulff für den Vortrag, der nicht nur ihn selbst, „sondern die meisten hier im Raum sehr nachdenklich gestimmt hat.“ Zu lange habe seine Generation die Demokratie „wie das warme Bad am Samstagnachmittag“ betrachtet, „in das man sich einfach hineinlegen konnte, ohne dafür etwas tun zu müssen“, so Nicolay. Wulff habe deutlich gemacht, das dies zu einfach sei. Die Kirche könnte in diesem Zusammenhang u.a. deshalb eine Rolle spielen, da sie ein Wissen um die Last der Geschichte habe. So schließe die laufende Renovierung an St. Gangolf nun erst die Wunden des Zweiten Weltkrieges, der die Markt- und Bürgerkirche stark in Mitleidenschaft gezogen hatte.

„Wir wollen versuchen, einen kleinen Beitrag zu leisten, die Kirche offenzuhalten, einladend zu sein und immer wieder auch zu Gespräch, Diskussion, Austausch anregen.“ Dennoch bleibe es der primäre Auftrag der Kirche, „immer wieder auf die Dinge hinzuweisen, die die Gesellschaft sich nicht selber geben kann.“ Es gehe darum, „den Himmel ein Stück offenzuhalten, bewusst zu machen, dass die Botschaft, die wir der Welt auszurichten haben, eine gute, ist, die beste ist“, eben das Evangelium. „Ich hoffe, dass es uns gelingt, mit der Markt- und Bürgerkirche St. Gangolf diese gute Nachricht in die nächste Generation hineinzutragen“, so Nicolay, der gemeinsam mit Kaster Wulff als Präsent eine nummerierte Gangolf-Fliese mit der Silhouette des Turmes der Kirche überreichte.

Im Ganzen bot die Rede des Altbundespräsidenten somit eine Vielzahl von richtigen und wichtigen, zugleich aber doch großteils recht konventionellen Topoi zum gelingenden Zusammenleben im demokratischen Gemeinwesen, mit denen er das verminte Gelände geschickt umtänzelte, dessen Geviert durch die Frage danach umgrenzt ist, worin der Kitt der Gesellschaft ganz konkret bestehen soll, jenseits des im Grunde selbstverständlichen Minimalkonsenses, der im Grundgesetz hinterlegt ist, sowie der Feststellung, dass diverse Institutionen benötigt werden, in denen natürlich auch jemand mitmachen muss, damit sie funktionieren können.

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