TRIER. In der nunmehr renovierten Trierer Markt- und Bürgerkirche St. Gangolf sprach der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse im Rahmen der Reihe „Forum Bürgerkirche“ zum Thema „Zeitenwende. Was eint uns? Demokratie und pluralistische Gesellschaft – Veränderungen in schwieriger Zeit“. Die zahlreich erschienenen Zuhörer in der proppenvollen Kirche hörten einen intellektuell raumgreifenden und komplexen Vortrag, der die Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität der Demokratie umfassend analysierte.
Von Alexander Scheidweiler
Der leidige Vorführeffekt, die sprichwörtliche Tücke des Objekts nötigte Dr. Markus Nicolay, Pfarrer der Innenstadt-Pfarrei Liebfrauen, am gestrigen Abend in der proppenvollen Trierer Markt- und Bürgerkirche St. Gangolf, kurz einige Erläuterungen abzugeben: „Sie befinden sich hier noch immer in einer Baustelle“, so Nicolay. Die Kirche, deren umfangreiche Renovierung nun abgeschlossen ist, werde für den liturgischen Betrieb ja erst an Ostern eröffnet. Man habe daher jetzt erstmalig bei voller Bestuhlung und Besetzung die Mikrophonanlage in Betrieb genommen. Grund für diese kurze Erläuterung war, dass schrille Rückkoppelungen wiederholt die Bemerkungen von Philipp Lerch, dem Landesbeauftragten der Konrad-Adenauer-Stiftung und Leiter des Politischen Bildungsforums Rheinland-Pfalz, unterbrachen, als dieser sich anschickte, Dr. Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D., zu begrüßen, der an diesem Abend zu Gast war, um im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Forum Bürgerkirche“ vor den zahlreich erschienenen Zuhörern über den in der Gegenwart gefährdeten gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sprechen.
Nach einigem technischen Nachjustieren und etwas Hin- und Herrücken des Rednerpultes konnte der Alt-Bundestagspräsident vor der beeindruckenden Kulisse des nunmehr in altem Glanz erstrahlenden Lasinsky-Chorfreskos standesgemäß begrüßt werden. Dabei verdeutlichte Lerch die Dramatik der gegenwärtigen Situation so anschaulich wie drastisch, indem er einen Granatsplitter aus Verdun vorzeigte und daran erinnerte, dass in dieser schrecklichen, über 100 Jahre zurückliegenden Schlacht rund 800.000 Tote und Verletzte zu beklagen waren, während dennoch heute in Europa wieder Artilleriegranaten tausende Todesopfer fordern, im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Dies lasse die Frage entstehen: „Was haben wir gelernt aus schwierigen Zeiten?“
Der Vorsitzende des Kuratoriums Markt- und Bürgerkirche, Bernhard Kaster, erinnerte in seinen einleitenden Bemerkungen an die Doppelfunktion der beliebten Trierer Bürgerkirche, einerseits „ein Ort des Gebetes, ein Ort der Stille, des Rückzugs aus der Innenstadt, auch aus dem Alltag“ zu sein, andererseits aber „auch ein Ort des Austauschs, des Miteinanders, der Begegnung“, was sich in der Reihe „Forum Bürgerkirche“ ausdrücke. Daher sei St. Gangolf als „Symbol für Glaube, christliche Werte und eine engagierte Stadtgesellschaft“ besonders geeignet für das Thema „Zeitenwende. Was eint uns? Demokratie und pluralistische Gesellschaft – Veränderungen in schwieriger Zeit“, über das Thierse sprechen werde.
Kaster sagte, dass der Begriff „Zeitenwende“, der jetzt im Kontext des Krieges gegen die Ukraine in aller Munde ist, auch einen „glücklichen Prozess“ beschreiben könne, nämlich den „Prozess in einem freien, friedlichen und grenzüberschreitenden Europa leben zu dürfen“. Europa habe insbesondere der Region Trier Frieden und Wohlstand gebracht, nachdem sie jahrhundertelang Aufmarschgebiet für Kriege gewesen sei. Wolfgang Thierse habe 1989/90 diese wunderbare Wende der deutschen und europäischen Geschichte maßgeblich mitgestaltet. Heute stehe man indes vor neuen, großen Wendungen und Herausforderungen für Staat und Gesellschaft.
Der ehemalige Bundestagspräsident analysierte die angesprochenen Herausforderungen und die damit verknüpfte Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts in einem intellektuell raumgreifenden und komplexen Vortrag. Die Frage nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft und der Stabilität der Demokratie sei wieder dringlicher geworden, konstatierte Thierse. Die Herausforderungen seien vielfältig: „Wir leben in einer Zeit sich beschleunigender Veränderungsdramatik.“ Dazu gehörten die rapiden ökonomischen, technischen und wissenschaftlichen Veränderungen im Rahmen der Globalisierung, die „Migrationsschübe mit den unvermeidbar folgenden Anstrengungen und Konflikten der Integration“, die ethnische, weltanschauliche und religiöse Pluralisierung der deutschen Gesellschaft, die tiefgreifende Veränderung der Arbeitswelt durch die digitale Transformation, die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz, die ökologische Bedrohung, die eine Abkehr vom Wachstum erforderlich mache, Terrorismus und schließlich der Aggressionskrieg Putins gegen die Ukraine und seine Folgen für Deutschland.
Diese vielfältigen Umwälzungen und Einschnitte stellten das bisherige deutsche Erfolgsmodell infrage. Bei der Sicherung von wirtschaftlichem Wohlstand sowie politischer und sozialer Stabilität habe Deutschland es sich lange einfach gemacht: Die „Kosten unseres Wohlstandes und unserer Freiheit“ wurden verlagert, so Thierse – für die Sicherheit verließ man sich auf die USA, billige Rohstoffe wurden aus Russland bezogen, China bildete einen Absatzmarkt für deutsche Produkte von scheinbar unbegrenzter Aufnahmefähigkeit. Dieses Modell sei nun nicht mehr tragfähig: „Jetzt wird es sich erweisen müssen, ob unsere Demokratie eine Schönwetterdemokratie gewesen ist.“
Thierse beschrieb die vielfachen Konfliktlinien innerhalb der Gesellschaft: ein neues Bedürfnis nach Identität und Beheimatung bei vielen Menschen, das in einem Spannungsverhältnis zur kosmopolitischen Mentalität der urbanen Eliten steht, ein noch immer fortbestehendes „Ost-West-Gefälle“, in dem sich die für viele Ostdeutsche schmerzhafte Erfahrung „der Entwertung und des Entschwindens der eigenen Lebenserfahrungen und Lebensleistungen“ spiegele, eine teilweise überzogene Erwartungshaltung und ein aggressives Anspruchsdenken gegenüber der Politik, die nun einmal keine Wunder vollbringen könne, und ein neues, sich verschärfendes „Kulturkampfklima“. Thierse bezog sich in diesem Zusammenhang auf seinen Essay „Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?“, der vor zwei Jahren in der FAZ erschienen war und eine öffentliche Debatte ausgelöst hatte. Noch heute werde er darauf angesprochen, so der Bundestagspräsident a.D..
Bereits damals hatte er seiner Befürchtung Ausdruck verliehen, dass die immer härter geführten Debatten um Rassismus, Postkolonialismus und Gender den Zusammenhalt der Gesellschaft untergraben könnten. Auch an diesem Abend in Trier betonte Thierse: „Wer in einer Demokratie etwas für Minderheiten erreichen will, der muss dafür Mehrheiten gewinnen.“ Vielfalt müsse mehr sein, als „das Gegeneinander von Ansprüchen und Betroffenheiten“, denn „Vielfalt erzeugt nicht von selbst Gemeinschaftlichkeit“. Daran müsse immer wieder neu gearbeitet werden. Gleichzeitig dürfte Freiheit nicht zum „egozentrischen Freiheitsnarzissmus“ ausarten, sondern müsse in Solidarität münden.
Wie ist nun auf diese vielfältigen Konfliktlagen zu reagieren? Wodurch kann vor dem Hintergrund dieser Brüche Zusammenhalt verbürgt werden? Thierse führte einige Punkte an, die er für essentiell hält: Wenn Religion und Tradition in immer geringerem Umfange als verbindende Kräfte wirksam werden, werde die Verständigung darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, wichtiger. Bei diesem Dialogprozess gebe es wichtige Gemeinsamkeiten, die weiterhin Menschen miteinander verbinden. Thierse nannte die „gemeinsame Sprache“, „die Anerkennung von Recht und Gesetz“ und in diesem Zusammenhang den Verfassungspatriotismus, „die Beziehungen, die wir durch den Markt und den Arbeitsprozess miteinander eingehen“, die Bemühung um soziale Gerechtigkeit sowie „Maßstäbe, Normen und Werte“, etwa „tendenziell gemeinsame Vorstellungen“ von Freiheit und Gerechtigkeit. Dieses gemeinsame Fundament sei aber nicht einfach da, sondern müsse immer wieder neu erarbeitet und vorgelebt werden.
Zahlreiche Wortmeldungen aus dem Publikum – gefragt wurde u.a. nach der Situation der Kirche in der Gegenwart, dem Zusammenhalt in Europa insgesamt und dem Kommunikationsstil des Bundeskanzlers – während der von der Theologin Katharina Zey-Wortmann, Leiterin der Katholischen Erwachsenenbildung Trier, moderierten Fragerunde zeugten vom regen Interesse der Zuhörer.
Pfarrer Dr. Markus Nicolay meinte abschließend, Thierses Vortrag habe ihn, wie wohl die meisten Anwesenden, nachdenklich zurückgelassen. Thierses Werben für einerseits Bescheidenheit, andererseits ein selbstbewusstes Auftreten könne auch bei der Positionierung der Kirche im gesellschaftlichen Diskurs Anregung sein. Zu guter Letzt überreichten die Veranstalter dem vormaligen Bundestagspräsidenten eine Auswahl an Moselweinen als Präsent und man ließ den Abend bei einem Glas Wein gesellig ausklingen.
Sommermärchen 2006 und wochenlang ein Meer in schwarz-rot-gold, egal ob deutsch-türkisch-chinesisch oder Ossi. Egal ob Mann, Frau oder Alien.
Das bildet Zusammenhalt und nicht das seichte Politiker-Gequatsche.