Jahrelange Ärzte-Odyssee: Trierer leidet an extrem seltener Erkrankung

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Der 63-Jährige hat schon viele Ärzte besucht. Foto: Harald Tittel / dpa / Archiv

TRIER/HOMBURG. Es werden immer mehr seltene Erkrankungen registriert. Die Suche nach einer Diagnose kann viele Jahre dauern und sehr belastend sein. Wie ein Fall aus Trier zeigt.

Von Birgit Reichert, dpa

Angefangen hat alles vor gut zehn Jahren. Bernward Wittschier bekam taube Finger, taube Zehen und ein taubes Gesicht. Außerdem schmeckte plötzlich alles nur noch salzig. Heute hat sich das Taubheitsgefühl weiter ausgebreitet: Es geht von der Stirn schräg über seinen Kopf nach unten bis in den Schulterbereich.

«Es ist, wie wenn man zehn Betäubungsspitzen beim Zahnarzt bekommt und die Wirkung nie nachlässt», sagte der 63-Jährige in Trier. Die Taubheit schlage inzwischen auch auf das Sprechen und das Schlucken: «Ich verschlucke mich 30- bis 40-mal am Tag.» Er habe Angst, dass die Krankheit weiterwandere.

«Ratlos und verzweifelt»

Das Allerschlimmste sei aber: «Mir kann kein Arzt helfen.» Er habe eine wahre «Behandlungsmühle» hinter sich. Vom Hausarzt, Gehirnspezialisten über Lungenfacharzt, Zahnarzt und Orthopäden – bis er sich ans Zentrum für seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg wandte.

Er leidet vor allem unter einem Taubheitsgefühl im Gesicht.
Foto: Harald Tittel / dpa / Archiv

Dort sei auch er mehrfach stationär in der Neurologie gewesen – ohne dass bisher eine klare Diagnose oder Therapie gefunden werden konnte, sagte der Rechtsanwalt. «Ich bin ratlos und auch ein Stück weit verzweifelt.»

Diagnose kann viele Jahre dauern

Die schwierige und langwierige Suche nach einer Diagnose ist den Experten des Zentrums für seltene Erkrankungen in Homburg bekannt. «Im Schnitt kann das bis zu fünf Jahre dauern», sagte die Geschäftsführerin und Lotsin des Zentrums, Katarzyna Rososinska. In Extremfällen wisse man erst nach vielen Jahren, sogar 25 Jahren, an was jemand leide.

Jedes Jahr werden neue seltene Erkrankungen entdeckt. Foto: Oliver Dietze / dpa / Archivbild

Tag der seltenen Erkrankungen am 28. Februar

Oft werde auch eine Fehldiagnose gestellt. Und: «Leider findet man nicht immer eine Diagnose. Es gibt Fälle, da stößt man diagnostisch einfach an Grenzen», sagte die Oberärztin.

Am 28. Februar ist in diesem Jahr Tag der seltenen Erkrankungen. In Schaltjahren liegt er auf dem 29. Februar. Von einer solchen Erkrankung spreche man, wenn es bis zu 5 Fälle pro 10.000 Einwohner gebe, sagte sie. In Europa gebe es rund 30 Millionen Betroffene, in Deutschland seien es 4 Millionen Menschen. Zudem gebe es noch ultraseltene Erkrankungen, die weniger als 2 pro 100.000 Einwohnern betreffen.

Immer mehr seltene Erkrankungen

Inzwischen sind laut Rososinska rund 8.000 seltene Erkrankungen bekannt. «Es kommen immer neue dazu», sagte sie. Das liege auch daran, dass immer mehr genetische Untersuchungen gemacht würden, die dann mit Symptomen und Krankheitsbildern zusammengebracht würden. Zudem wachse – auch politisch gewollt – das Interesse an den seltenen Erkrankungen.

Bundesweit gibt es an Unikliniken 36 Zentren für seltene Erkrankungen, sagte die Medizinerin. Untereinander sei man vernetzt und tausche sich aus. Es gebe auch Fälle, die man weiter verweise, weil Experten bekannt seien.

Zentrum hilft bei rund einem Drittel

An das Zentrum in Homburg wendeten sich Patienten, die bei der Diagnose ihrer Krankheit nicht weiterkämen, sagte der Sprecher des Zentrums, Robert Bals. Nach Sichtung der Unterlagen würden die Fälle beim Verdacht auf eine seltene Erkrankung mit Fachkollegen der Uniklinik besprochen. Dann werden diese entsprechend verteilt etwa auf Neurologie, Orthopädie oder Kinderklinik.

Im Schnitt gebe es rund 70 Anfragen im Jahr an das Zentrum. In rund einem Drittel der Fälle könne man bei der Diagnose helfen, sagte der Professor für Innere Medizin und Pneumologie. Bei den übrigen stelle sich heraus, dass es keine seltene Erkrankung sei – oder die Diagnosefindung ziehe sich hin.

Die Patienten in Homburg kämen nicht nur aus dem Saarland, sondern auch aus Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Luxemburg. In Spezialambulanzen würden am Uniklinikum jährlich viele Patienten, in denen es schon eine Diagnose gebe, behandelt. Stationär seien es etwa 3.000 Fälle.

Bei der Suche «Dranbleiben»

Bei seltenen Erkrankungen gebe es kaum Therapien und Medikamente, weil die Fallzahlen so gering sind, sagte Bals, der das Zentrum 2016 mitgegründet hat. Für nur drei Prozent dieser Erkrankungen stünden in Deutschland zugelassene Medikamente zur Verfügung.

Nicht immer kann bei Patienten eine Diagnose gefunden werden.
Foto: Oliver Dietze / dpa / Archiv

Rososinska sagte, man solle als Patient bei der Suche nach der Diagnose «dranbleiben». Es könne sein, dass irgendwann ein neues Symptom dazukomme, das dann zur Klärung beitragen könnte. Sie selbst habe solche Fälle schon erlebt, sagte die 48-Jährige.

Patient Wittschier hat vieles versucht

Bernward Wittschier dagegen ist nach all den Jahren Suche resigniert. «Ich habe alle Untersuchungen, die man machen kann, schon zigmal gemacht», sagte er. Lumbalpunktion, Röhre, Nerventests. «Man hatte bei mir schon so viele Verdachtsdiagnosen: Gehirntumor, Alzheimer, Multiple Sklerose. War aber alles nichts.» Er habe auch sonst vieles versucht: Spritzen, Cortison, Homöopathie.

Er hat schon viele Unterlagen von Ärzten gesammelt. Foto: Harald Tittel / dpa / Archiv

Ein Gehirnspezialist habe zu ihm gesagt: «Herr Wittschier, dass Sie eine deutliche Erkrankung haben, kann ich feststellen. Sie sind wahrscheinlich einer von 10, 20 oder 30 Leuten in Deutschland, die so etwas haben. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wo sie herkommt.»

Stiftung fördert Forschung

Seit 2006 setzt sich die Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für eine bessere medizinische Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit seltenen Erkrankungen ein. Vor allem die Forschungsförderung ist der Stiftung ein Anliegen. «Mangels Forschung fehlen wirksame Behandlungsansätze und Medikamente», teilte die Stiftung mit.

Die Erkrankungen könnten genetischer, infektiöser oder umweltbedingter Natur sein. 70 Prozent beginnen im Kindesalter, andere entwickelten sich erst später.

Die Idee zur Stiftung entstand in der Familie des früheren Bundespräsidenten, weil man vieles aus eigener Erfahrung kannte: «die verzweifelte Suche nach Antworten» und «die jahrelange Odyssee von Klinik zu Klinik» – und die «Hilflosigkeit angesichts fehlender Behandlungsoptionen».

Deren Tochter leidet an einer seltenen Augenkrankheit, die zur Erblindung führte. Experten schätzten laut Stiftung, dass jedes Jahr bis zu 250 neue seltene Erkrankungen entdeckt werden.

Wunsch nach einem ganz normalen Tag

Wittschier sagte, er hoffe, dass eines Tages jemand erkenne, was er habe. Oder wenigstens eine Ahnung oder Idee habe, was es sein könnte. Sein größter Wunsch sei: «Einen Tag mal wieder ganz normal zu erleben wie vor 20 Jahren. An dem ich alles spüre und schmecke.» (Quelle: dpa)

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