WITTLICH. Trauer und Schmerz sind im Haus der Ovsjannikovs allgegenwärtig. An den Wänden hängen viele Fotos des Sohnes Micha, der im August 2023 bei der Säubrennerkirmes in Wittlich erstochen wurde. Auf dem Sofa liegen Fotoalben, voll mit Erinnerungen auch aus der Kindheit des jungen Mannes, der mit 28 Jahren gestorben ist.
«Ja, wir sitzen hier oft abends auf dem Sofa und schauen uns die Bilder an», sagt Vater Michael Ovsjannikov. «Micha war so ein toller Mensch. Er fehlt uns so sehr.»
Seit einem Monat sind bei der Familie in Wittlich aber auch Wut, Ärger und Verzweiflung eingezogen. Am 11. Oktober wurde der US-Soldat, der wegen der tödlichen Messerattacke auf ihren Sohn vor einem Militärgericht auf der Air Base Spangdahlem angeklagt worden war, von einer Jury freigesprochen. «Das ist eine Katastrophe für unsere Familie und für alle Verwandten», sagte Mutter Irina Ovsjannikov. Ihr Mann fügte hinzu: «Wir können es überhaupt nicht verstehen und nicht akzeptieren.»
Geständnis im Prozess nicht verwendet
Ein Grund ist das Geständnis, das der damals beschuldigte Soldat kurz nach seiner Festnahme abgelegt hatte. Darin habe er auch Täterwissen gezeigt: Er beschrieb die Tatwaffe und nannte den Ort, wo er das Messer später in den Fluss Lieser in Wittlich warf, wie der Vater sagte. «Wir waren und sind also sicher, dass er der Täter ist.»
Dieses Geständnis war aber im US-Militärprozess als Beweismittel nicht verwendet worden. Die Militärrichterin sei nach Prüfung zu dem Schluss gekommen, dass die Aussage des US-Soldaten «nicht freiwillig war», hatte die Air Base mitgeteilt. Bei der Vernehmung des Mannes waren deutsche und amerikanische Kriminalbeamte dabei.
Der Leitende Oberstaatsanwalt Peter Fritzen in Trier sagte: «Hier ist nicht bekannt, auf welche Tatsachen das US-Militärgericht seine Entscheidung gestützt hat und warum es die Auffassung vertreten hat, die Aussage sei nicht freiwillig gewesen.» Aus den vorliegenden Akten lasse sich «eine an den Beschuldigten gerichtete Drohung» nicht entnehmen. Auch sei dem Soldaten zu Beginn seiner Vernehmung durch deutsche Kripobeamte mitgeteilt worden, dass wegen eines Tötungsdelikts ermittelt werde.
Im August 2023 war es auf der Säubrennerkirmes in Wittlich zu der Tat an dem 28 Jahre alten Mann gekommen. Es hatte einen Streit aus unklarem Grund gegeben, der in einem Gerangel und schließlich der Messerattacke gemündet ist. Der 26 Jahre alte Soldat war mit amerikanischen Freunden unterwegs: Im Prozess konnte ihm die Tat nicht nachgewiesen werden. Anders als in deutschen Gerichten wurde das Urteil nicht begründet.
Deutsche Justiz hätte Fall übernehmen können
Familie Ovsjannikov empfindet nicht nur den Freispruch als ungerecht, sie sehen auch den Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt. «Wir fühlen uns nicht gehört und übergangen», sagte Michael Ovsjannikov (50). Es hätte nicht passieren dürfen, dass die deutschen Behörden die Strafverfolgung schon wenige Tage nach der Tat an die US-Militärjustiz abgegeben haben – wie es ein Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut vorsieht.
Nach Angaben des Trierer Strafrechtsprofessors Mohamad El-Ghazi habe es anfangs die rechtliche Möglichkeit gegeben, dass die deutsche Justiz den Fall an sich ziehe. «In der Zukunft wird man in jedem Einzelfall noch gründlicher prüfen müssen, ob man die Zuständigkeit bei den US-Gerichten belassen kann», sagte er. Gerade wenn es um Kapitalstraftaten wie Mord gehe, habe die deutsche Öffentlichkeit ein großes Interesse an einer Verfolgung durch deutsche Strafverfolgungsbehörden.
Strafrechtsexperte hat Verständnis für Familie
El-Ghazi kann den Unmut der Familie des Opfers nachvollziehen. «Natürlich ist die Entscheidung gerade für die Angehörigen mehr als frustrierend. Ein geliebter Mensch ist tot. Der Tod ist eindeutig auf Fremdeinwirkung zurückzuführen. Ein Beschuldigter, der die Tat gestanden hat, wurde dennoch freigesprochen», sagte er.
Das Strafverfahren verfolge unter anderem den Zweck, «für eine Befriedung des Konflikts zu sorgen». Das gelinge nicht immer. «Im vorliegenden Fall wurde dieser Zweck offensichtlich verfehlt.» Er warne aber «dringend davor, die Schuld allein bei der US-amerikanischen Militärgerichtsbarkeit zu suchen». Auch in Deutschland komme es zu Freisprüchen, weil sich (vermeintlich) so eindeutige Beweismittel als unverwertbar erwiesen.
Vor dem US-Militärgericht konnten die Ovsjannikovs nicht als Nebenkläger auftreten. Die Möglichkeit einer Revision gegen die Entscheidung ist nicht vorgesehen. Ebenso ist eine erneute Übernahme des Verfahrens durch die deutsche Justiz nach dem Urteil des US-Militärgerichts nicht möglich, sagte Oberstaatsanwalt Fritzen. Ein Angeklagter, der in einem Strafverfahren freigesprochen oder verurteilt worden sei, könne nicht wegen derselben Handlung «innerhalb desselben Hoheitsgebiets» erneut vor Gericht gestellt werden.
Opferfamilie will für Gerechtigkeit kämpfen
Damit wollen sich die Ovsjannikovs nicht abfinden. «Wir wollen, dass diejenigen, die das Verfahren abgegeben haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Und wir wollen, dass der Prozess neu aufgerollt wird», sagte der Vater von Micha. Dafür wollten sie kämpfen: Sie hätten bereits etliche Politiker angeschrieben sowie den Petitionsausschuss des Bundestags um eine Prüfung ihres Anliegens gebeten, sagte Julia Woit, die Cousine des Getöteten.
Auch ein Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg werde geprüft. Für den 24. November sei eine erneute Demonstration an der Air Base Spangdahlem unter dem Motto «Justice for Micha» (Gerechtigkeit für Micha) angemeldet. Zur ersten Demonstration am 18. Oktober kamen rund 700 Menschen. «Wir werden nicht aufgeben», sagte der Vater kämpferisch. So könne man nicht abschließen.
Am 12. Dezember ist der Fall auch Thema im Rechtsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags. Zunächst lagen Anträge der Regierungsfraktionen und der AfD vor.
Und dann ist sie da wieder, diese große Trauer. Im Eingang des Hauses liegt Rottweiler Ragnar in seinem Hundekorb. Man spürt seine Aufregung, wenn man durch die Tür kommt. «Er wartet immer noch darauf, dass Micha zurückkommt», sagte die Mutter mit Tränen in den Augen. (Quelle: Birgit Reichert, dpa)