KIEW. Russische Truppen haben in der zurückliegenden Nacht das Atomkraftwerk Saprorischschja im Süden der Ukraine beschossen, wie zahlreiche Medien melden. Auf dem Gelände der Anlage am Dnjepr-Fluss brach ein Feuer aus. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Russland in einer Video-Bitschaft „Nuklear-Terror“ vor. Die Informationen zu den Ereignissen sind kaum zu verifizieren.
Mit seinen sechs Leichtwasser-Reaktoren, die insgesamt über eine Nennleitung von 5.700 Megawatt verfügen, ist das Atomkraftwerk Saporischschja das leistungsstärkste AKW in Europa. Es befindet sich ca. 50 Kilometer von der gleichnamigen Großstadt entfernt, die rund 760.000 Einwohner hat. Da die Anlage ihrer Größe wegen besonders viel Kühlwasser benötigt, wurde der Dnjepr an dieser Stelle verbreitert. Das Kraftwerk ist von zentraler Bedeutung für die Energieversorgung des Landes.
Wie der Nachrichtensender n-tv berichtet, teilte der Bürgermeister der nahe Saporischschja gelegenen Stadt Enerhodar, Dmytro Orlow, bereits am späten, gestrigen Abend mit, dass russische Einheiten auf das Kraftwerk vorrückten. Auch in der Stadt seien Schüsse zu hören. Es handele sich um einen Konvoi von 100 Militärfahrzeugen. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, erklärte gegenüber der Bild-Zeitung, die Ukraine habe die Kontrolle über die Anlage verloren.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba forderte über den Kurznachrichtendienst Twitter das sofortige Ende der Attacke. Ein Gau in Saporischschja würde zehnmal schlimmer sein als die Katastrophe von Tschernobyl. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien teilte bei Twitter mit, ihr Leiter, Rafael Grossi, sei im Gespräch mit dem ukrainischen Premierminister Denys Schmyhal. Die IAEA rief zum Ende der Kampfhandlungen auf und warnte vor „schwerer Gefahr, wenn Reaktoren getroffen werden.“
Der ukrainische Präsident Selenskyj verurteilte den Angriff in einer Videobotschaft in scharfen Worten. Er bezeichnete Russland als „Terroristen-Staat“, der die Katastrophe von Tschernobyl wiederholen wolle. Noch nie habe ein Land im Krieg Kernkraftwerke beschossen. Selenskyj telefonierte laut dem amerikanischen Nachrichtensender CNN mit dem US-Präsident Joe Biden. Biden forderte Russland auf, „seine militärischen Aktivitäten in dem Gebiet einzustellen und Feuerwehrleuten und Hilfskräften Zugang zu dem Gebiet zu ermöglichen“. Es hatte zuvor Berichte gegeben, dass der Feuerwehr der Zugang zu dem Areal verwehrt werde. Großbritannien und die USA forderten in der Sache eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates.
Mittlerweile hat der Chef der regionalen ukrainischen Militärverwaltung, Oleksander Staruch, erklärt, dass die Lage wieder unter Kontrolle sei. Der Brand habe laut AKW-Leitung lediglich ein Ausbildungs-Gebäude betroffen. Auch die amerikanische Energieministerin Jennifer Granhlom bestätigte, dass keine erhöhten Strahlungsmengen an dem Kraftwerk festgestellt werden konnten. Die Reaktoren würden jetzt ordnungsgemäß heruntergefahren. Der in Polen ansässige Nachrichtenkanal Nexta teilte bei Twitter mit, der Beschuss habe aufgehört. 40 Einsatzkräfte und zehn Fahrzeuge seien an den laufenden Löscharbeiten beteiligt.
Der ehemalige Kommandeur der NATO-Truppen während des Kosovo-Krieges, Wesley K. Clark, sagte laut CNN, die russischen Einheiten versuchten, ukrainische Truppen einzuschließen. Das Kraftwerk sei dabei „genau im Weg.“ Der pensionierte General betonte zudem die strategische Bedeutung der Anlage: „Schalte sie aus und die Energieversorgung ist zumindest vorübergehend destabilisiert. Man nimmt den Ukrainern die Fähigkeit, die Kommunikation und weitere Dinge aufrecht zu erhalten.“