Preistreiber Staat? Zur Debatte um steigende Energiepreise

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Foto: Patrick Pleul/dpa/Symbolbild

Alle merken es: Energieverbrauch wird teurer. Das ist politisch gewollt, stellt aber viele Menschen vor kaum zu stemmende, finanzielle Herausforderungen. Wenn Politik und Medien dafür kein Verständnis zeigen, ignorieren sie den sozialen Sprengstoff.

Von Alexander Scheidweiler

„Die Aussöhnung von Ökonomie und Ökologie war im Wahlkampf versprochen. Doch in Wahrheit lässt man zwei Züge aufeinander rasen“, so der Journalist und Sachbuchautor Gabor Steingart unlängst in einem Gastkommentar für „Focus Online“. Der Gründer der Media Pioneer AG sieht den Staat als Haupt-Preistreiber bei den gegenwärtig anziehenden Energiepreisen: Die CO2-Bepreisung ist in diesem Jahr auf 60 Euro je Tonne gestiegen, durch den Green Deal der EU-Kommission werde die Menge, die emittiert werden darf, nochmals reduziert, so Steingart. Er diagnostiziert „den Anfang einer staatlich gewollten Preis-Orgie“. Seine Prognose: Im Jahr 2022 wird der Benzinpreis um 70 Cent je Liter steigen.

Diese Entwicklung führt zu hitzigen Diskussionen: Am Montag erwiderte die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), in der ARD-Talkshow „Hart aber fair“ auf eine Zuschauerfrage nach steigenden Energiepreisen: „Die Kilowattstunde, die ich nicht verbrauche, ist am billigsten“ – und empfahl, man solle sich neue Fenster einbauen lassen, wie die „Bild“-Zeitung berichtet. Der Politik-Chef des Boulevard-Blattes, Jan Schäfer, bezeichnete die Äußerungen Barleys als „Heuchelei“.

Am gestrigen Abend kommentierte der WDR-Redakteur Detlef Flintz in den „Tagesthemen“ die Preisentwicklung zustimmend, da sich nur so die erwünschte, umweltpolitische Lenkungswirkung erzielen lasse: „Er ist da, der Preisschock. Gut so, denn nur wenn Öl und Gas spürbar teurer werden, kriegen wir die Erderwärmung in den Griff“, so Flintz. Es reiche nicht, auf den weiteren Ausbau erneuerbarer Energien zu warten: Wir sollten „froh sein, dass wir gezwungen werden, Konsum und Produktion zu ändern.“ Flintz forderte „achtsames Heizen, weniger Energiefresser im Haushalt, keine Kurzstreckenflüge“.

Die Vorschläge Barleys und Flintz’ auf die von Steingart so benannte „Preis-Orgie“ umzusetzen, dürfte indes nicht für jeden ohne weiteres möglich sein. In den steigenden Energiepreisen steckt sozialer Zündstoff! So reagierte denn auch ein Sozialpolitiker und Kollege Barleys aus dem EU-Parlament scharf auf den Meinungsbeitrag von Flintz: „Ein Kommentar, der vor Arroganz nur so trieft“, schrieb Dennis Radtke, ehemaliger Gewerkschaftsfunktionär, stellvertretender Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) und für die CDU im Sozialausschuss des EU-Parlaments, auf Twitter. Verteuerung habe kurzfristig nur eine Lenkungswirkung, wenn Alternativen vorhanden seien, so Radtke. Die seien aber beim Heizen und insbesondere auf dem Land beim Thema Mobilität nicht vorhanden, so der Europaabgeordnete.

Das Problem könnte langfristig fortbestehen, und zwar nicht nur bei den Energiepreisen. So ermittelte das Statistische Bundesamt für September eine Inflationsrate von 4,1%, der höchste Monatswert seit 1993! Zwar verweist die Behörde auf „temporäre Sondereffekte“ wie die Rücknahme der vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung zu Jahresbeginn oder den „Preisverfall der Mineralölprodukte“ im Jahre 2020.

Doch höhere Verbraucherpreise könnten auch durch langfristige, makroökonomische Faktoren begingt sein, die durch nationale Maßnahmen kaum zu beeinflussen sind. Die Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup, Anfang der Nullerjahre Leiter der nach ihm benannten Kommission zur Finanzierung der Sozialsysteme, und Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, identifizierten im Podcast „Economic Challenges“ des „Handelsblatts“ vier Faktoren, die langfristig zu höherer Inflation führen können: 1. die infolge von Re-Nationalisierungstendenzen (America First, Brexit, Ablehnung von Freihandelsabkommen) sich abschwächende, globale Arbeitsteiligkeit, 2. die Überalterung in vielen Industrieländern, die zu Fachkräftemangel führt, 3. die gestiegene Staatsverschuldung, die die geldpolitischen Handlungsspielräume der EZB beschränkt, weil höhere Zinsen die Tragfähigkeit der Schuldenlast bestimmter Euro-Staaten wie Italien gefährden würde, und schließlich 4. die Dekarbonisierung/CO2-Bepreisung, die in die Volkswirtschaft eingepreist wird.

Kurz: Wir werden uns wohl oder übel auf höhere Preise einstellen müssen. Wer aber, wie Barley und Flintz, wenig bis kein Verständnis für die Lage von Menschen zeigt, die diese Entwicklung vor kaum zu stemmende, finanzielle Herausforderungen stellt, ignoriert den sozialen Sprengstoff und riskiert eine Spaltung der Gesellschaft.

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