Literarisches Monument für den Bruder. Georges-Arthur Goldschmidts Roman „Der versperrte Weg“

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Foto: Alexander Scheidweiler

Der Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt gilt als bedeutender literarischer Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich. Sein Schicksal als Verfolgter des Nationalsozialismus hat der Autor immer wieder zum Thema seiner Bücher gemacht. In seinem aktuellen Roman, der für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, erzählt der 93-jährige Goldschmidt die Lebensgeschichte seines älteren Bruders.

Von Alexander Scheidweiler

Vom 20. bis 24. Oktober öffnet die Frankfurter Buchmesse wieder ihre Tore. War die Mega-Messe der Buchbranche mit stark 7.000 Ausstellern in letzten Jahr pandemiebedingt weitestgehend auf virtuelle Formate beschränkt, so können interessierte Leseratte in diesem Jahr wieder live Bücherluft schnuppern, schmökern und stöbern. Und wie in jedem Jahr wird die Akademie Deutscher Buchpreis anlässlich der Messe den renommierten Deutschen Buchpreis verleihen; der Gewinner wird heuer am 18.10. bekanntgegeben. Bereits im vergangenen Monat hat die Jury die 20 für den Preis nominierten Titel vorgestellt, die Crème de la Crème der deutschsprachigen Romane sozusagen, die im zurückliegenden Jahr erschienen sind.

Unter den teils dickleibigen Schmökern – Franzobels „Entdeckung Amerikas“ ist gut 500 Seiten stark – mit teils auffällig gestalteten Eye-Catcher-Umschlägen – Shida Bazyars „Drei Kameradinnen“ ziert ein Flammenmotiv in kräftigen Rottönen – befindet sich auch ein schmales Bändchen von 111 Seiten mit einem unauffälligen, weißen Cover, das zwei halbwüchsige Jungen in altertümlicher 30er-Jahre-Kleidung zeigt. Es trägt den Titel „Der versperrte Weg. Roman des Bruders“. Verfasst hat es der deutsch-französische Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt, erschienen ist es im Wallstein Verlag. Das Buch mag nicht besonders auffällig daherkommen, doch „Der versperrte Weg“ hat es in sich!

Der seit Jahrzehnten in Paris lebende Goldschmidt, 1928 in Reinbeck bei Hamburg in eine jüdischstämmige, längst zum Protestantismus konvertierte Familie hineingeboren – der Vater war Oberlandesgerichtsrat – gilt als bedeutender literarischer Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich. So übersetzte Goldschmidt u.a. Goethe, Stifter und Nietzsche ins Französische. Daneben hat der Autor seine Vita immer wieder zum Thema seiner Literatur gemacht, etwa in seiner Erzählung „Die Absonderung“ oder in seiner ebenfalls im Wallstein Verlag erschienenen Autobiographie „Über die Flüsse“, die im vorliegenden Roman mehrfach zitiert wird. Immer wieder schrieb Goldschmidt über die Traumata, die damit zusammenhängen, dass Georges-Arthur, geboren als Jürgen-Arthur, gemeinsam mit seinem vier Jahre älteren Bruder Erich wegen der Judenverfolgung des Nazi-Regimes von den Eltern ins Exil geschickt wurde, zunächst, im Jahre 1938, nach Florenz, dann, ein Jahr später, weiter nach Frankreich, wo die Brüder ein Internat in Savoyen besuchten und Jürgen-Arthur von der Rektorin immer wieder brutal geschlagen wurde.

Wie Goldschmidt in seinem kleinen Nachwort erklärt, war es sein Verleger, Thedel v. Wallmoden, der den Anstoß zu dem „Roman des Bruders“ gab, indem er den Autor fragte, „was aus dem älteren Bruder geworden sei, der in den autobiographischen Büchern des Verfassers selten und in den späten Jahren gar nicht mehr erwähnt worden sei.“ Goldschmidt empfand dies als „eine aufwühlende, bis dahin sorgfältig vermiedene Frage: vielleicht, weil man sich, alleine durch die Tatsache, dass man noch da war, lebensschuldig fühlte.“

Dennoch war diese aufwühlende Frage für Goldschmidt die Initialzündung, es im hohen Alter zu unternehmen, die Geschichte seines Bruders zu erzählen, dessen Lebensweg als Kämpfer der Résistance und späterer Offizier der französischen Armee so anders war als derjenige des Literaten.

Von Beginn an besteht, wie bei vielen Bürderpaaren, eine Spannung, ja ein ständig schwelender Konflikt, zwischen Erich und Jürgen-Arthur. Dies dürfte auch der Grund sein, warum die Brüder später, im Erwachsenenalter, kaum noch Kontakt hatten, ein Manko, das Goldschmidt nun, bei der Arbeit am Erinnerungsroman seines Bruders, seltsam berührt: „Es ist ein sonderbares Gefühl, so nahe aneinander gelebt zu haben und so wenig vom älteren Bruder zu wissen“, heißt es einmal.

Von Beginn an hat der ältere das Gefühl, dass der jüngere, etwas weinerliche, schwierige, in der Schule weniger erfolgreiche Bruder eine Last für ihn darstellt: „Vor ihm breitete sich der ganze Weg zum Gehen oder Laufen aus; jetzt, wenn ein Erwachsener ihn an der Hand hielt, war ihm der Weg versperrt“, dämmert es dem vierjährigen Erich dunkel nach der Geburt Jürgen-Arthurs. Dieses quälende Gefühl, dass der Weg versperrt ist, anfänglich die Folge des Umstandes, dass der kleine Bruder von den Eltern mit mehr Aufmerksamkeit bedacht wird, kehrt später in Erichs Leben in anderer Form als Identitätsproblematik wieder.

Denn Erich ist nicht nur ein guter Schüler, anders als sein Bruder, er ist auch ein vom deutschen Nationalismus seiner Zeit begeistert:

„Er, Erich, war einer von denen, die sich gemeint fühlten, wenn es um Heimat und Vaterland ging, wenn er das Deutschlandlied hörte, kamen ihm vor Rührung die Tränen, vor allem aber, wenn er sich selber ‚ich hatt’ einen Kameraden‘ vorsummte beim Schlacht spielen mit seinen Bleisoldaten.“ Ganz besonders auf die vermeintlichen Erbfeinde, die Franzosen, blickt Erich herab, für „degeneriert“ hält er sie im Vergleich mit den Deutschen.

Umso schmerzhafter muss der Heranwachsende es erleben, dass ihm der Weg des Dazugehörens durch den immer stärker werdenden Antisemitismus verbaut wird, dass er, dem beim Deutschlandlied die Tränen kommen, nicht mehr als vollwertiges Mitglied der Nation gesehen wird:

„Er durfte nicht mehr zur HJ und hatte seine Eltern sagen hören, dass er zu Ostern nicht mehr aufs Gymnasium dürfe und man für ihn eine Privatschule finden müsse.
Er durfte nicht mehr überall hin, am Tonteich baden gab es nicht mehr, im Stadtwald durfte er nicht mehr auf den Bänken sitzen, am Spielplatz standen an jeder Ecke große steinerne Enten, auf denen seine Mitschüler gerne ritten. Das war nun verboten.“

Die Schlinge der Diskriminierung zieht sich immer weiter zu, bis die Eltern Erich und Jürgen-Arthur nach Florenz schicken, wo sie ein Jahr lang bei dem ebenfalls jüdischstämmigen Literaturwissenschaftler Paul Binswanger und seiner Frau wohnen, bevor die Flucht unter Lebensgefahr nach Frankreich, in die relative Sicherheit, führt, wo die Brüder das Internat „Collège Florimontane“ in der Nähe von Annecy besuchen.

Die relative Sicherheit endet mit der Eroberung Frankreichs durch die Wehrmacht im Sommer schnell. Zum Glück der Brüder wird Savoyen allerdings zunächst von Italien, nicht von Deutschland besetzt. Die Unterwürfigkeit Pétains und seines Vichy-Regimes gegenüber den Besatzern und der Widerstandsgeist de Gaulles lösen in Erich eine identifikatorische Wende aus:

„Der Marschall Pétain ersetzte Paul Reynaud als Präsident. Im Radio sagte er, man müsse zu kämpfen aufhören. Seine zitternde, wie auswendig heruntergeleierte Stimme klang süßlich verräterisch. Die Niederlage seiner Heimat war für ihn eigentlich selbstverständlich.“

Erich ist abgestoßen, jedoch:

„Jetzt, wo er die Sprache verstand, in wenigen Monaten hatte er das Wesentliche erfasst, gingen ihn die Geschehnisse immer mehr an. Die Sache Frankreichs wurde seine Sache. […] Sehr bald erfuhr man durch das Hören des Schweizer Radio Sottens von de Gaulle, der in London war und Frankreich verkörperte und eine Exilregierung gebildet hatte. Da die Schweiz neutral blieb, konnten die Deutschen das Radio nicht kontrollieren.
Sofort hatte er verstanden: De Gaulle war die Stimme Frankreichs und nicht der greise Pétain. De Gaulle, das war der Kampf gegen das Nazijoch, das nun fast ganz Europa unterdrückte und nur Ausbeutung und Morden bedeutete.“

Und so ist es nur folgerichtig, dass Erich sich, als die Deutschen 1943 die Italiener als Besatzer in Savoyen ablösen und die Judenverfolgung auf diese Region ausdehnen, die bis dahin davon verschont war, sich dem Widerstand anschließt. In diese Zeit fällt auch einer der wenigen, anrührenden Momente, in denen Erich sich um den kleinen Bruder, für dessen Weinerlichkeit und schlechte schulische Leistungen er sich schämt, wirklich kümmert, in einer Nacht nämlich, in der sie sich in einem abgelegenen Chalet vor der Gestapo verstecken müssen:

„Im breiten, baumlosen Talgrund ergriff Erich liebevoll die Hand des kleinen Bruders, der, nun bald sechzehnjährig, sich noch immer kindisch benahm. Er heulte oder redete ununterbrochen, ruhig wurde er nur unter der Strafe, die er unbedingt brauchte oder herausforderte, um sich selber zu finden. Er verstand nur Rute und Linealschläge auf die Fingerspitzen. […] Erich kam ihm nie zu Hilfe, die Scham und die Lächerlichkeit, der er sich ausgesetzt hätte, hielt ihn jedes Mal zurück: Mit dem habe ich nichts zu tun.
Er drehte sich diesmal aber ständig um, um nachzusehen, ob der Bruder auch mitkam, denn er war voll Sorge und Liebe für ihn.“

Erich schließt „sich der Résistance mit dem Capitaine Bulle, dem Organisator des Widerstands im Norden Savoyens“ an und ist später bei der Befreiung des Konzentrationslagers Struthof dabei. Nach dem Krieg wird er zunächst Fremdenlegionär, kämpft in der furchtbaren Schlacht von Dien Bien Phu, dann als Offizier der regulären französischen Armee im Algerienkrieg. Seine Sympathien für die Putschisten von 1961 belasten seine Militärkarriere, dennoch schafft er es bis zum Major. Die Identitätsprobleme wird er nie völlig los, doch er glaubt „an die zivilisatorische Aufgabe Frankreichs“ als „Land der Aufklärung, wo alle Verfolgten Europas Unterkunft finden konnten“.

Kurz vor seinem Tod im Jahre 2011 wurde ihm „die Ehrenlegion verliehen, die ihm zeigen sollte, wie sehr er zu Frankreich gehörte und die seine freie Zugehörigkeit zur Humanität bestätigte, die für ihn Frankreich verkörperte.
Zu seinem Begräbnis im November 2011 kamen eine ganze Reihe hoher und höchster Offiziere, deren Anwesenheit deutlich machte, wie sehr er in Frankreich integriert war.“

Am Ende ist so aus der Vita des älteren Bruders „eine Art Dementi der Geschichte“ geworden, wie Goldschmidt schreibt. Der Weg mag vielfach versperrt gewesen sein – der Bruder hat sich dennoch Bahn gebrochen. Er hat sich dem Schicksal nicht gebeugt. Er hat sich selbst einen Weg geschaffen, wo kein Ausweg mehr zu sein schien.

Georges-Arthur Goldschmidt hat seinem Bruder damit in seinem kleinen Roman ein beeindruckendes Denkmal gesetzt, ein bewegendes dazu, das die Nominierung für den Deutschen Buchpreis mehr als verdient hat.

Georges-Arthur Goldschmidt. „Der versperrte Weg. Roman des Bruders“. Göttingen: Wallstein Verlag, 2021. 111 Seiten. €20,- (E-Book: €15,99)

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